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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Daraus drängen sich irgendwelche Gräser ans Tageslicht. Habe ich zu selten vor meine Füße geschaut oder war der Bürgersteig früher anders? Hat sich der Zustand der Straßen verschlechtert oder kommt es mir nur so vor? Kojote will mir nicht sagen, wie das Rudel barfuß im Winter überlebt.
    Ich habe es nicht anders verdient. Ich rede mit niemandem, also kann ich auch nicht erwarten, dass irgendjemand mir helfen will. Schon gar nicht Kojote.
    Wir sind jetzt da und können von der gegenüberliegenden Straßenseite das gusseiserne, herrlich altmodische Lyzeumstor sehen, so vertraut, dass der Anblick mir einen Stich versetzt. Neu ist die Bewachung. Wir haben alle mitbekommen, dass die Sicherheitsbranche floriert. Über jedem Blumenbeet hängt eine Überwachungskamera und vor jedem Bäcker steht jemand in grüner Uniform. Die privaten Dienste versuchen, sich im Farbton den Jacken und Helmen der Polizei anzunähern – dabei ist das patentierte Mintgrün der öffentlichen Sicherheit vorbehalten.
    Das Lyzeum wird natürlich von der Polizei bewacht. Vier Männer in Mintgrün flankieren den Eingang, ich sehe neidisch auf ihre schweren, glänzenden Stiefel. Was würde ich jetzt alles dafür geben. Die Polizisten haben uns sofort entdeckt, sie bewegen sich aufeinander zu und unterhalten sich, wobei sie immer wieder auf uns deuten.
    Ich trete automatisch hinter Kojotes Rücken.
    »Siehst du sie, Babyfuß?«, sagt er leise.
    »Natürlich sehe ich sie«, murmele ich. »Ich bin nicht blind.«
    Dann begreife ich, dass er im Gegensatz zu mir nicht die Polizei meint, sondern die Mülltonnen. Aber das kann nicht sein Ernst sein. Die mintgrünen runden Eimer sind keine zwei Meter von den mintgrünen Uniformen entfernt. Die Eimer, in die ich selber unzählige Male Bonbonpapiere und Papierservietten versenkt habe.
    »Wir können da nicht hin, Kojote.« Meine Stimme bekommt einen schrillen, bettelnden Unterton. »Siehst doch selbst, sie beobachten uns.«
    »Jetzt mach dir nicht ins Hemd. Wir sind harmlos. Hast du Angst, dass du zurück nach Hause gebracht wirst?«
    Ich bin so verblüfft, dass ich die Wachmänner für einen Moment vergesse. »Wohin?«, frage ich, schiebe mir die Haare aus dem Gesicht, blicke in Kojotes blaugraue Augen. »Sehe ich aus, als hätte ich ein Zuhause?«
    »Halte die anderen nicht für zu dumm, Babyfuß.« Seine Hand schnellt nach vorn, packt meinen Unterarm. Ich versuche, mich aus seinem Griff zu winden, aber seine Finger sind unnachgiebig. Er schiebt den übergroßen Ärmel zur Seite und hält mir mein eigenes Handgelenk unter die Nase.
    »Was ist das da?«
    Ich muss seiner Aufmerksamkeit Respekt zollen: Der schmale weiße Streifen auf meiner Haut ist kaum zu erkennen. Aber er ist da, wenn man genau hinschaut, sieht man die Grenze zwischen der leichten Bräunung und der helleren Spur. Der Spur meines ID-Armbands.
    »Lass mich los.« Ich zappele in seinem Griff. Er hält mich immer noch fest.
    »Verrat mir, woher du kommst, Babyfuß.«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Soll ich dir auf die Sprünge helfen?«
    Ich halte still und blinzele ihn an.
    »Okay, ich sag es dir. Du bist eine Normale, weil du ein Armband getragen hast. Das ist doch kein Staatsgeheimnis. Hör auf zu flennen, du bist nicht die einzige.« Endlich lässt er mich los.
    »Ich war eine Normale«, sage ich und reibe mir das Handgelenk, auf dem sich die Spuren seiner Finger abzeichnen.
    »Und was ist mit dir passiert?«, fragt er, aber es klingt nicht sonderlich interessiert.
    »Meine Eltern haben sich getrennt.«
    »Normale trennen sich nicht.«
    »Das war vermutlich auch das Ende unserer Normalität. Mein Vater ist nicht gut damit zurechtgekommen und ziemlich schnell gestorben. Aber schon davor ging alles den Bach herunter.«
    »Und deine Mutter?«
    Ich schließe die Augen. Ich darf jetzt nicht an sie denken. Nicht daran, was passiert ist.
    »Ist deine Mutter damit auch nicht zurechtgekommen?«, bohrt er nach.
    Ich öffne ein Auge, plötzlich sehr erleichtert. Er weiß eigentlich gar nichts über mich, denke ich. Ich bin in Sicherheit, vorerst.
    »Doch«, sage ich. »Sie ist bestens damit zurechtgekommen.«
    »Also?«
    Warum ist er so neugierig, denke ich wieder alarmiert, das passt doch gar nicht zu ihm. Der kurze Moment der Erleichterung ist vorbei. Ich zucke möglichst gleichgültig mit den Schultern. Das scheint ihm vielsagend genug zu sein, denn er lässt mich endlich in Ruhe.
    Und ich atme aus. Was für ein Glück, dass er nicht weiß, wer

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