Spiegelriss
gefallen die Tiernamen in meinem Rudel, aber ich habe mir noch keinen eigenen verdient. Ich bleibe ein Babyfuß ohne Namen und ich muss dankbar sein, dass man mich durchfüttert, obwohl ich bis jetzt nicht wirklich von Nutzen war.
Meine Aufgabe ist denkbar einfach: rumzulaufen und möglichst unauffällig nach Essen zu suchen. Das Rudel nennt es Futter. Ich nenne es Abfall, aber ich habe gelernt, mein Gesicht dabei nicht mehr so angewidert zu verziehen. Früher, kichert die Hyäne abends am Feuer, war es einfacher. Überhaupt war alles einfacher. Man konnte in den Mülltonnen vor den Restaurants wühlen. Dann kamen die Schlösser an die Deckel der Mülltonnen. Irgendwann wurden sie sogar bewacht. Es war die Zeit, in der die kleineren Abfalleimer der kommunalen Straßen in den Blickpunkt des dauerhungrigen Rudels rückten, aber dort gab es nie viel zu holen, höchstens Zitronencreme- und Schokoladenspuren an der Verpackung von Vitaminriegeln, abgeknabberte Gehäuse von Äpfeln und Birnen, Mandarinenschalen, nicht ganz ausgekratzte Joghurtbecher.
Ich bin immer noch nicht hungrig genug, um irgendwas davon in die Hände zu nehmen, geschweige denn in den Mund. Dafür habe ich auch gelernt, welche Blätter und Beeren der städtischen Hecken essbar sind, wobei sich auch das rasch verändert: Was gestern noch genießbar war, wird heute mit Abwehrsprays gespritzt, von denen wir niesen und husten müssen und uns die Augen anschwellen. In der kurzen Zeit, die ich dabei bin, habe ich schon einige neue Sträucher entdeckt an Stellen, die am Vortag noch völlig kahl waren.
Die Idee hatte, wie immer, der Kojote: nicht mehr die Abfalleimer in Parks oder an öffentlichen Haltestellen durchsuchen, sondern vor Schulen. Wir gehen zum Lyzeum, sagt er an diesem Morgen. Dort würden die Müllkörbe überquellen vor angebissenen Sandwiches, fast kompletten Vitaminriegeln und höchstens zu einem Drittel geleerten Traubenzuckerpäckchen. Am Lyzeum studiert das Geld, flüstern die heiseren Stimmen in unserem Rudel. Die Lyzeisten holen sich an ihren Automaten und in der Kantine mehr Essen, als sie brauchen, schließlich ist alles bereits von ihren Eltern bezahlt. Sie haben aber selten Hunger und stopfen ihre schicken Taschen lieber mit Drogen voll als mit übrig gebliebenen Essensresten.
Die Vorstellung lässt die matten Gesichter im Rudel aufleuchten. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Gespräche darüber aufschnappe: Die Lyzeums-Tour gilt als die leichteste und ergiebigste und alle wollen dahin. Dürfen aber selten. Das Lyzeum ist bewacht und in seiner Nähe fällt man schnell auf. Ich bin die Einzige, die sich noch nie freiwillig für diese Tour gemeldet hat, und ich schüttele auch jetzt den Kopf, als Kojote mit seinem blauschwarzen Fingernagel auf mich zeigt.
»Babyfuß, du hast blaue Lippen. Du gehst heute zum Lyzeum. Bring was mit und futter dich selber auch mal satt.«
»Nein«, sage ich und alle schauen auf. Ich sage selten was. Ich lehne nie etwas ab. Und ich widerspreche nicht – schon gar nicht dem Kojoten. Die Ratte und der Lurch, das Pony und die Kröte verdauen es kurz und stimmen mir dann lautstark zu.
»Babyfuß ist doch total unfähig.«
»Babyfuß hat keine Ahnung.«
»Wieso darf er? Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr am Lyzeum.«
»Ruck, zuck hat er uns in die Scheiße geritten.«
Ich zucke immer noch zusammen, wenn ich Kraftausdrücke höre. An schmutzige Nägel und dauerknurrenden Magen habe ich mich gewöhnt, an Schimpfworte immer noch nicht.
»Siehst du nicht, wie daneben er ist, Kojote?«
Kojote wäre nicht Kojote, wenn er nicht alle mit einer Handbewegung zum Schweigen bringen könnte. Ich schau zwischen den Haarsträhnen, die mir ins Gesicht hängen, aus der Hocke zu ihm auf. Er sieht auf mich herunter, ich wende mich wie gewohnt ab. Zurückzustarren hieße, den Kampf herauszufordern, und ich könnte gerade nicht mal mit einer Katze kämpfen. Allerdings will ich auf keinen Fall zum Lyzeum. Das scheint Kojote als Einziger von ihnen zu kapieren und vermutlich sagt er exakt aus diesem Grund so leise, dass alle die Luft anhalten, um ihn hören zu können:
»Babyfuß geht zum Lyzeum. Damit er uns nicht in die Scheiße reitet, komme ich mit und passe auf.« Dabei krümmen sich seine Lippen ganz leicht, als er das Wörtchen er ausspricht. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass er das extra sagt, weil ihm sehr wohl bewusst ist, dass ich eigentlich eine sie bin – als wären Babyfüße nicht
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