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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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deutete: »Krass, was hast du denn da?«
    Ich betastete meine Wange und fühlte Linien und Falten, die dort definitiv nicht hingehörten, aber irgendwie an den Reißverschluss meines Stiftetuis erinnerten. Ich musste es bei meinem Nickerchen als Kopfkissen benutzt haben.
    »Wir haben in Deutsch schon wieder die Buddenbrooks gesehen«, erklärte ich. »Das war zum Gähnen langweilig.«
    Linus tauschte einen Blick mit Wiebke und war sofort im Bilde. »Du bist eingeschlafen und Herr Bachmann hat dich erwischt?« Er schürzte anerkennend die gepiercte Unterlippe. »Reife Leistung!« Linus legte den Arm um mich, um mir auf die Schulter zu klopfen, und ließ ihn anschließend dort liegen.
    Eine Geste, die augenblicklich Lavinia auf den Plan rief, die wie jeden Tag in Minirock und High Heels hinter uns herstöckelte und versuchte, Linus’ Aufmerksamkeit zu erregen. »Habe ich eigentlich schon erzählt, dass ich meinen Geburtstag nächste Woche im Knightclub feiern will?«, keuchte sie. Anscheinend war sie gerannt, um uns einzuholen.
    »Echt?« Linus ließ sich zu ihr zurückfallen und Wiebke und ich verdrehten gleichzeitig die Augen. Lavinia war eines von diesen Mädchen, die zu viel Make-up auflegten und sich trotz Hüftspeck unerklärlicherweise immer wieder für Klamotten in Größe XS entschieden. Seit ein paar Monaten verfolgte sie Linus auf Schritt und Tritt. Genauer gesagt, seit ich mit ihm Schluss gemacht hatte und es ihr zu Ohren gekommen war. (Ich mochte Linus, aber mit ihm zusammen zu sein, das hatte sich angefühlt, als würde ich mit Wiebke gehen.)
    Fast die gesamte U-Bahn-Fahrt über drehte sich das Gespräch um Discos in Essen und Umgebung, ein Thema, zu dem ich als erklärter Partymuffel nur wenig beizusteuern hatte. Also lehnte ich mich in meinem Sitz zurück, während die rot-weiße U-Bahn wie ein Wurm über ihr Gleis zwischen den verstopften Spuren der Autobahn A40 kroch, und döste vor mich hin. Die Sonne schien durch die staubigen Scheiben und malte helle Flecken auf die Sitzpolsterung, die früher einmal bunt gemustert gewesen, aber jetzt nur noch ausgeblichen und schmutzig war. Mit den Jahren hatten die Bezüge die Farbe alter Kaugummis angenommen und irgendwie rochen sie auch so. U-Bahn-Geruch. Seufzend legte ich den Kopf in den Nacken.
    Ich war wirklich verdammt müde.
    Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass es dunkler wurde, als die U-Bahn wenig später in den Tunnel kurz vor der Haltestelle Bismarckplatz einfuhr, aber das war der Moment, in dem ich es zum ersten Mal bemerkte. Der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass sich etwas verändert hatte.
    Denn ich sah einen Schatten.
    Eigentlich war es mehr eine Bewegung, gleich neben mir, draußen vor dem Fenster. Ein Flackern in der Dunkelheit, das ich aus dem Augenwinkel zu erkennen meinte. Eine schwarze Masse, halb durchsichtig. Erst hielt ich es für eine optische Täuschung und schaute genauer hin. Aber nein, es gab keinen Zweifel. Auch wenn ich es nicht erklären konnte, instinktiv wusste ich es: Dort war etwas, etwas Großes, Unförmiges.
    Und es rannte neben der U-Bahn her.
    Ich spürte, wie sich die Härchen an meinen Unterarmen aufrichteten. »Hey, Leute, seht ihr das?«, unterbrach ich Lavinia, die gerade über Schaumpartys referierte, und deutete hinaus.
    »Was denn? Die Tunnelwand?«, fragte sie genervt und hob eine nachgezogene Augenbraue. »Unglaublich aufregend. Also, was ich eigentlich sagen wollte –«
    »Nein, da ist irgendwas … Lebendiges. Seht ihr das nicht?« Was mochte es nur sein? Ein Tier vielleicht?
    »Keine Angst, Flora, das ist nur dein Spiegelbild«, meinte Linus und grinste mich an.
    Ich durchbohrte ihn mit meinem Blick. »Haha.«
    Wiebke runzelte die Stirn, rückte ans Fenster und schüttelte dann den Kopf. »Ich kann nichts erkennen, tut mir leid.«
    In diesem Augenblick fuhr die U-Bahn in die nächste Haltestelle ein und mit dem plötzlichen Licht verschwand auch der Schatten. Ich blinzelte. »Jetzt ist er weg.«
    »Er?« Lavinia wirkte amüsiert.
    »Oder es. Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Ich bin einfach so fertig heute«, sagte ich und hoffte, dass, was immer ich gesehen hatte, sich in Luft aufgelöst hatte. Aber natürlich erfüllte sich mein Wunsch nicht.
    Das nächste Mal sah ich den Schatten, als Wiebke und ich am Hauptbahnhof ausstiegen und uns durch das lindgrün geflieste Gebäude auf den Weg zur Ballettschule machten. Seelenruhig stand er inmitten der kreuz und quer vorbeieilenden Reisenden,

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