Stadt aus Trug und Schatten
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, woher ich das wusste. Aber ich war mir sicher, dass es so war.
»Ich bin deine beste Freundin und das bedeutet, ich verstehe alles«, sagte Wiebke in einem Ton, der keine Widerrede zuließ.
Fünf Minuten später saßen wir jede in einem Plüschsessel und nippten an großen Tassen voller Cappuccino mit Milchschaum.
»Vielleicht sind es die Geister von Verstorbenen, die noch unerledigte Dinge haben und nun deine Hilfe brauchen«, sagte Wiebke und grinste mich an. Sie kicherte. »Das wäre echt cool, oder?«
Leider konnte ich über ihren Witz nicht lachen. Wiebke, die meinen Gesichtsausdruck bemerkte, wurde wieder ernst. »Hey, tut mir leid. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Aber ich glaube immer noch nicht, dass du verrückt wirst. Und auch nicht, dass da wirklich Schatten sind.«
Sie klaubte eine Haarspange aus meinem von Natur aus immer ein wenig zu welligen Pony. Ich war mal wieder dabei, mir die Haare lang wachsen zu lassen. Seit Jahren hatte ich das schon vor, doch über die Schulterlänge kam ich nie hinaus. Irgendwann verlor ich stets die Nerven und erlag der mysteriösen Vorstellung, ein Bob würde zu meinem Gesicht passen. Dieses Mal hatte ich mir allerdings geschworen durchzuhalten. Und bis zu den Schlüsselbeinen reichte meine Mähne immerhin schon.
»Vielleicht geht es dir heute einfach nicht so gut«, mutmaßte Wiebke und nahm einen zu großen Schluck von ihrem Cappuccino, an dem sie sich die Zunge verbrannte. »Bekommst du deine Tage?«, nuschelte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Und so fühlt es sich auch nicht an. Ich bin total müde. Und ich habe diese Dinger gesehen, ganz sicher.«
»Seltsam.« Wiebke stützte den Kopf in ihre Hand, ihre pinkfarbenen Strassohrringe klimperten gegen den Bügel ihrer Brille.
»Finde ich auch«, sagte ich und zuckte im selben Augenblick zusammen, als hätte ich gerade einen Autounfall beobachtet.
Denn da war schon wieder ein Schatten.
Ein ziemlich großer sogar.
Wiebke folgte meinem Blick nach draußen auf die Straße, wo der Schatten vor der Fensterscheibe des Starbucks hing wie eine tieffliegende Gewitterwolke. »Da«, flüsterte ich. »Da ist schon wieder einer.«
»Wo?«
Der Schatten schwebte direkt vor uns und nahm die gesamte obere Hälfte der Scheibe ein, wie ein dunkles Loch, das in die Welt gerissen worden war. Eine schwarze Masse, ein flackernder Leib, augenlos. Und doch wusste ich, dass er mich anstarrte. Ich begann zu zittern. »Na da.«
»Meinst du den von dem Baum dort?« Wiebke zeigte auf eine Linde auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Nein«, krächzte ich, unfähig, mich zu rühren. Der Schatten fixierte mich. Es kam mir vor, als blickte er durch meine Augen hinab in meine Seele. Als fragte er sich, ob ich diejenige war, die er suchte. Was dachte ich da für einen Quatsch? Ich blinzelte und im nächsten Moment ließ das … Ding von mir ab. Es zog sich unmerklich zusammen, als ducke es sich zum Sprung. Dann flog es davon.
Erst jetzt merkte ich, dass ich Wiebkes Hand umklammerte. Rasch ließ ich los. Meine Finger hatten weiße Flecken auf ihrer Haut hinterlassen. »Tut mir leid«, murmelte ich.
»Schon gut.« Inzwischen lag echte Sorge in Wiebkes Blick. »Mann, bist du blass geworden. Ist dir schwindelig? Könnte gut sein, dass dein Kreislauf absackt, dann wird einem doch auch schwarz vor Augen, nicht? Los, trink noch einen Schluck Kaffee. Oder willst du lieber ein Glas Wasser?«
»Cappuccino reicht«, sagte ich schnell. Ich wollte mittlerweile nur nach Hause, mich in meinem Zimmer verkriechen, mir die Decke über den Kopf ziehen und in Ruhe geistesgestört sein. »Hör zu, ich sollte mich wohl besser ein wenig hinlegen.«
»Gute Idee.« Wiebke stand auf. »Da vorne ist gerade eine von den Couchen frei geworden.«
»Eigentlich hatte ich an mein Bett gedacht«, erklärte ich und leerte meine Tasse, indem ich den Kopf in den Nacken legte und darauf wartete, dass der Rest Milchschaum in meinen Mund lief. Der war schließlich am leckersten.
»Soll ich meine Mutter fragen, ob sie uns abholt und dich nach Hause bringt?« Wiebke hatte bereits ihr Handy gezückt, um ihre Eltern anzurufen.
Doch ich schüttelte den Kopf. Wiebkes Mutter sah genauso aus wie Wiebke, nur ein bisschen älter, und war Hausfrau und Mutter aus Leidenschaft. Wann immer ich bei Wiebke und Linus zu Besuch war, buk sie Kuchen oder Kekse, machte Eiscreme oder legte einem einen Schokoriegel aufs
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