Stadt des Schweigens
Departments.
Matt zog einen Mundwinkel hoch. „Schuldig im Sinne der Anklage. Ich bin in der Gegend herumgefahren, weil ich dich erwischen wollte, ehe du zum Haus fährst.“
„Ich war auf dem Weg dahin. Ich habe nur angehalten, weil …“ Sie verstummte, als sie merkte, dass sie eigentlich keinen Grund gehabt hatte anzuhalten. Sie war lediglich einer Laune gefolgt.
Er schien zu verstehen. „Ich begleite dich.“
„Das ist wirklich lieb von dir, Matt, aber nicht nötig.“
„Da bin ich anderer Ansicht.“ Als sie wieder etwas einwenden wollte, schnitt er ihr das Wort ab. „Es sieht schlimm aus, Avery. Ich finde, du solltest nicht allein sein, wenn du es siehst. Ich folge dir“, fügte er mit rauer Stimme hinzu. „Ob du willst oder nicht.“
Avery sah ihm einen Moment in die Augen, nickte stumm, wandte sich ab und stieg in ihren Geländewagen. Sie ließ den Motor an und setzte zurück auf die Main Street. Während sie die Dreiviertelmeile zu dem alten Wohnviertel fuhr, in dem sie aufgewachsen war, atmete sie immer wieder tief durch.
Ihr Vater hatte den Zeitpunkt seiner Tat gut gewählt – mitten in der Nacht, wenn es weniger wahrscheinlich war, dass die Nachbarn das Feuer sahen oder rochen. Laut Brandexperten hatte er Diesel benutzt, offenbar weil Diesel selbst brannte, im Gegensatz zu Benzin, dessen Dämpfe entflammten.
Ein Nachbar hatte auf seiner frühmorgendlichen Joggingtour die noch qualmende Garage entdeckt. Nachdem er vergeblich versucht hatte, ihren Vater zu alarmieren, von dem er annahm, dass er schlafend im Bett lag, hatte er die Feuerwehr gerufen. Der staatliche Brandsachverständige war hinzugezogen worden, der wiederum holte den Gerichtsmediziner, der dann die Polizei von Cypress Springs informierte. Letztlich war ihr Vater durch seinen Gebissabdruck identifiziert worden.
Weder die Autopsie noch die Spurensicherung am Tatort hatten Hinweise auf Fremdverschulden ergeben. Außerdem ließen sich keine Motive für einen Mord entdecken. Dr. Phillip Chauvin war allgemein beliebt gewesen und respektiert worden. Damit erklärte die Polizei seinen Tod offiziell zum Selbstmord.
Keine Mitteilung, kein Abschiedsbrief.
Wie konntest du so etwas tun, Dad? Warum?
Avery erreichte ihr Elternhaus, das in den 1920er Jahren im kanadischen Stil erbaut worden war, und bog in die Zufahrt. Der Rasen musste gemäht werden, die Beete gejätet und die Büsche getrimmt. Obwohl es noch früh war im Jahr, hatten die Azaleen zu blühen begonnen. Bald würden die Beete rings ums Haus in einer Sinfonie von Pinktönen erstrahlen, von eisigem Blassrosa bis zu tiefem Rosarot.
Ihr Vater hatte diesen Garten geliebt und ganze Wochenenden darin gewerkelt und gepflanzt. Jetzt wirkte alles verloren, überwuchert und vernachlässigt.
Avery runzelte die Stirn. Ihr Vater hatte sich offenbar schon lange nicht mehr um den Garten gekümmert. Länger jedenfalls als die zwei Tage, die seit seinem Tod vergangen waren.
Das war ein weiterer Hinweis auf seine Depression. Wie hatte ihr nur entgehen können, wie niedergeschlagen er war? Warum hatte sie während ihrer häufigen Telefonate nichts gemerkt?
Matt hielt hinter ihr an. Erneut atmete sie tief durch und stieg aus.
Er kam mit ernster Miene zu ihr. „Bist du wirklich bereit?“ „Habe ich eine Wahl?“
Sie wussten beide, dass dem nicht so war, und gingen die gewundene Zufahrt hinauf. Die zurückgesetzt liegende Garage duckte sich als eigenständiges Gebäude hinter das Haupthaus. Ein überdachter Gang verband beides miteinander.
Im Näherkommen wurde der Geruch nach Feuer intensiver – nicht nur nach verbranntem Holz, sondern auch nach verkohltem Fleisch und verkohlten Knochen. Als sie um die Hausecke bogen, erkannte Avery einen großen, unregelmäßigen schwarzen Fleck auf der Tür.
„Die Hitze vom Feuer“, erklärte Matt. „Sie hat im Innern noch mehr gewütet. Es grenzt an ein Wunder, dass das Gebäude nicht ganz eingestürzt ist.“
Vor etwa sechs Jahren hatte sie für die Tribune über eine Reihe von Bränden im Gebiet von Chicago berichten müssen. Wie sich seinerzeit herausstellte, war der Brandstifter der Sohn eines Feuerwehrmannes gewesen, der seinen alten Herrn für den Rauswurf aus dem Elternhaus bestrafen wollte. Leider hatte die Polizei ihn erst gefangen, nachdem er für den Tod von sechs unschuldigen Menschen – darunter ein Kind – verantwortlich gemacht werden konnte.
Avery erreichte mit Matt die Garage und wappnete sich vor dem, was ihr bevorstand.
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