Stadt des Schweigens
vor zwei Tagen nach New Orleans zurückgekehrt. Sie hatte es nicht abwarten können, Cypress Springs zu verlassen. Avery vermisste sie bereits. Sie hatte Gwen versprochen, dass sie mit Hunter vorbeikommen würde, wenn sie durch ihre Stadt fuhren.
Allerdings konnten sie nicht lange bleiben. Ihr Redakteur erwartete sie am kommenden Montagmorgen frisch und munter an ihrem Schreibtisch. Sie musste eine Story schreiben, und zwar eine große.
Sarah wimmerte. Sie saß hinten, ihre Welpen im Laderaum. „Ist schon okay, Mädchen“, raunte Avery ihr zu und kraulte sie hinter den Ohren. „Keine Sorge.“
Sie drehte sich im Sitz nach vorn, erhaschte dabei im Seitenspiegel einen Blick auf sich und erschrak.
„Ich hab’s genau gesehen“, sagte Hunter leise, prüfte im Spiegel den Verkehr und fuhr los.
„Ich sehe aus wie Frankensteins Braut, und die Stiche jucken.“
„Ich finde, du siehst wunderbar aus.“
„Hast du noch nicht gehört, dass Blinde nicht fahren dürfen? Vielleicht sollte ich besser aussteigen.“
Leise lachend langte er über die Konsole und drückte ihr die Hand. „Ich bin wirklich froh, dass du lebst.“
Avery schlang die Finger um seine, und plötzliche Rührung nahm ihr die Stimme.
Sie bogen auf die Main Street ab und kamen am Stadtplatz mit seiner erstaunlich weißen Laube vorbei. Leute blieben stehen und sahen ihnen nach. Einige winkten, andere starrten nur.
Jeder hatte inzwischen die Geschichte gehört, die noch sensationeller war als der Waguespack-Mord. Und die Reaktionen reichten von Schock über Ungläubigkeit bis zu Zorn. Viele hatten ihre Trauer und ihre Verwirrung zum Ausdruck gebracht. Wie hatte so etwas geschehen können, und ausgerechnet hier? Cypress Springs war so ein schöner Ort zum Leben. Etliche Bürger waren vorgeladen und vom FBI über Die Sieben befragt worden – über die alte und die neue Gruppierung. Niemand wurde festgenommen.
Cypress Springs trauerte. Um die Toten und um eine Lebensart, die auf einer Lüge basierte. Eine Veränderung war unvermeidlich.
Averys Blick fiel auf ,Rauches Dry Goods’ an der Ecke Main und First Street. „Hunter, halt an.“
Er folgte ihrer Bitte und brachte den Geländewagen direkt vor dem Laden zum Stehen. Wie vor vier Wochen stieg sie aus und blickte die Main Street hinab mit ihren malerischen Gebäuden, dem schönen Stadtplatz und den unveränderten Ladenfronten.
Es sieht nicht echt aus, dachte sie. Es ist ein Anachronismus. Die Zeit geht weiter … das Leben schreitet voran im Guten wie im Schlechten. Alles andere ist Betrug, wie ein Elixier, das ewige Jugend verspricht.
Hunter stellte sich neben sie. „Alles okay mit dir?“
Sie streifte ihn mit einem Seitenblick. „Wird schon. Und wie steht’s mit dir?“
„Ich werde nachts wach und frage mich, warum er und nicht ich? Wir waren Brüder, sogar Zwillinge. Es hätte mich genauso treffen können.“
Die Polizeipsychologen gingen davon aus, dass Matt unter einer psychotischen Störung gelitten hatte, der paranoiden Schizophrenie verwandt, mit dem großen Unterschied, dass er völlig normal handelte, außer wenn er unter seinem Wahn litt.
Eine umfassende und genaue Diagnose sei schwierig, hatte der Psychiater gesagt, da er nur im Nachhinein auf Matts Symptome schließen könne. Er hatte spekuliert, dass der Vorfall mit Sallie Waguespack den Keim für den späteren dramatischen Ausbruch der Krankheit gelegt hatte. Sein Wahn war durch die Ideologie, die in Familie, Gemeinde und dem gewählten Beruf gepflegt wurde, noch gefördert worden.
Avery fand Hunters Hand und schlang die Finger darum. „Nein“, sagte sie leise, „es hätte dich nicht treffen können.“
Dankbar sah er sie an. „All die Jahre habe ich mich von der Familie verlassen, ja ausgestoßen gefühlt. Niemand hat etwas in der Richtung gesagt, aber ich habe es gespürt. Nach jener Mordnacht war natürlich alles anders, und jetzt weiß ich endlich, warum.“
Sie rieb mitfühlend die Wange an seiner Schulter. „Es tut mir Leid, Hunter.“
„Mir auch.“ Er sah ihr in die Augen. „Aber ich werde Mom und Cherry durch die nächste Zeit helfen. Ich werde für sie da sein.“
Der Bezirksstaatsanwalt hatte auf Anklagen gegen die beiden verzichtet. Zum einen, weil Cherry zum Zeitpunkt des Mordes noch ein Kind gewesen war. Aber auch wegen Mangels an Beweisen und weil der wahre Mörder nicht mehr lebte.
Trotzdem hatten Cherry und Lilah entschieden, dass sie nicht in Cypress Springs bleiben konnten. Ihr Haus
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