Stefan Zweig - Gesammelte Werke
1922
I n seinem weitblickenden, durchdringenden und längst schon zu einem Gut Vieler gewordenen Goethe-Buch, hat Friedrich Gundolf die verbundenste, teilnehmendste, ein ganzes Zeitalter umfassende und durchbildende Gestalt der deutschen Geschichte gezeigt, den einzigen Dichter, der durch Breite des Lebens, Vielfalt der Anteilnahme, Wandelbarkeit der Formen ein nationales Universum neben oder über dem Irdischen geworden ist. In Kleist (Friedrich Gundolf: ›Heinrich von Kleist‹, Georg Bondis Verlag) gestaltet er fast absichtlich antithetisch den Gegenspieler, den isolierten Menschen, den »geborenen Einsiedler«, dem ein Schicksal versagt, trotz stärkster Willensanstrengung, in irgendeiner Form mit seiner Zeit, seinem Vaterland, mit seinen Menschen und Dichtern verhaftet zu sein. In der furchtbarsten Einsamkeit, in der sich je ein produktives Genie inmitten seiner Generation befunden hat, immer fingerbreit nah vom ersehnten Ziel und durch sinnvoll unsinnige Verkettung des Schicksals davon zurückgestoßen, von niemand empfangend und niemandem von den Nächsten gebend, sondern erst einem späteren Geschlecht – so tragisch umwölkt, mit dämonischem Brandmal gezeichnet, irrt er quer durch die Zeit und wirft, müde gehetzt, das Leben gerade in dem Augenblick weg, wo sein wahrer Anfang, seine vitale Wirkung gekommen wäre.
Diese tragische Einstellung sieht Gundolf, der eminenteste Klardenker, den wir in literarischen Dingen heute haben, in einziger Sachlichkeit. Er stellt sie manchem von Kleistens Verehrern, die immer wieder von der Tragik dieses Menschen, dieses Werkes bis in das Letzte ihres Wesens erschüttert sind, vielleicht sogar zu sachlich, zu klar, zu kalt dar, seine halb akademische, halb Stefan-Georgische Verhaltung selbst der äußersten Gefühle baut und gliedert in kristallener Helligkeit noch dort begriffsklar, wo einem anderen Mitgefühl oder Pathos der Leidenschaft längst die Empfindung verwirrte, aber eben durch diese Impassibilität des Urteils, durch diese Unsentimentalität des Gefühls, durch diese Helligkeit selbst beim Blick in die Abgründe, sieht Gundolf das Problem Kleistens mit einer Deutlichkeit, die alle vor ihm nicht gekannt oder kaum geahnt haben. Mit harten, geraden, unverwischbaren Linien grenzt er es nach vorn und rückwärts ab und zieht seine Größe ebenso wie seine Grenze mit unbeirrbarer Gerechtigkeit. Das locker angewendete Wort vom Genie schon läßt er beiseite. Für ihn ist Kleist kein »schlicht Großer«, sondern »eine gewaltsam starke Seele« – eine Definition, die leicht abgedungen ist von Goethes abwehrendem Wort von den »forcierten Talenten«, und seine unmittelbare Tragik, sein Scheitern empfindet er im letzten begründet durch die große Beziehungslosigkeit, die eigentlich jedem deutschen Dramatiker im Verhältnis zu seiner Nation anhängt, die bei Kleist aber im Superlativ zu einer stockigen und bockigen Eigenbrödelei geworden war. Diese Eigenwilligkeit, diese Eigenbrödelei verfolgt nun Gundolf prachtvoll durch alle Formen, von den kulturellen, von der Unfähigkeit, die großen Ideen der Zeit zu teilen, bis hinab zu den scheinbar äußerlichen, bis hinein in die sprachlichen Gewaltsamkeiten der Syntax und wölbt diese eingeborene Disharmonie von Kleistens Natur empor zu einer »Beziehungslosigkeit zwischen seiner Seele und der Welt, die er durch Vergewaltigung aufzuheben sucht«. Aus solcher Formel ergibt sich gleichsam organisch die dichterische Grundform einer genialisch aufgetriebenen Natur, die im ewigen Spannungszustand zu sich und der Welt schwebt, der es andererseits aber an geistiger Bindungsform infolge einer starken Ungeistigkeit mangelt; der Mensch der Spannungen, der gefühlsmäßigen gewitterhaften Entladungen muß (obwohl Kleistens Struktur im tiefsten die eines Musikers war und vielleicht eben darum das Dramatische als seine Form fand) die Sinnlichkeit, die Intensität seiner vulkanischen Natur notwendig tragisch äußern, in einer Art von Dynamik, wie sie einem gewissermaßen gemischten Genius – etwa Goethe – im Dramatischen nie erreichbar war. Diese Grundlinien eines dichterischen Charakters sind bei Gundolf meisterhaft gezogen, das Thema ist umgrenzt und formuliert: nun folgt in einzelnen Analysen die Darstellung der Stücke, jede selbst wieder ein Meisterstück. Mit erstaunlicher Scharfsinnigkeit unterscheidet Gundolf zwischen dem Müsser Kleist und dem Könner , zwischen einem Stück wie der ›Penthesilea‹, wo sich das innere
Weitere Kostenlose Bücher