Stefan Zweig - Gesammelte Werke
zählt, und an erster Stelle, das Haus Reclam, auf hundert Jahre zurückblickend und drei Generationen an dem fast übermenschlichen Unterfangen eines universalischen Weltbilds durch das Buch bauend, alle Künste, alle Wissenschaften, alle Erkenntnisse umfassend und sie in einheitlicher, handlicher Form vereinend. Es wäre verlockend, dem Ursprung und Grundplan dieses Baues nachzuspüren, der seinen anfänglichen Grundriß zweifellos im Wachstum überhöht hat: wahrscheinlich hat hier ein Vorfahre nur geplant, den Deutschen in billigster und handlichster Form ihre wesentlichen literarischen Meisterwerke zu übermitteln. Jener Trieb zum Weltbild, jener urmächtige, wohnt aber nicht nur dem einzelnen Menschen selbst inne, sondern jeder seiner Tätigkeiten. Wirkt sein Samen in einer Sammlung, so wird diese Sammlung universalischen Charakter unwillkürlich annehmen wollen, sie wird begehren, Welt zu sein, Kosmos. Wird er dichterisch sich erproben, so gerät er bald in die Verlockung, alle nur denkbaren Formen sich einzufügen, den inneren Lebenskreis mit allen Problemen zu verbinden. Wird er als Gelehrter nur eine Spezies als Eingang des Stollens wählen, so gelangt er, gerade fortstoßend, in natürlicher Verlängerung doch irgendwie an den Mittelpunkt der Welt. So ist diesem ursprünglich begrenzten Unternehmen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer deutlicher der Sinn zugewachsen, Weltbild und weltbildnerisch zu werden, mit der Unterhaltung Belehrung, mit der Belehrung Vertiefung, mit der Vertiefung im seelischen zugleich Erweiterung im geistigen Raume zu verbinden, Gebiet für Gebiet in immer weiterer Nachbarlichkeit einzubeziehen und schließlich eine Repräsentation aller dichterischen und denkerischen Bemühung zu werden, die in allen Ländern und zu allen Zeiten jemals versucht wurde. Wo einmal aber dieser Trieb des Wachstums ins Weltmäßige eingesenkt ist, kann er nicht enden und stocken, denn wer kann beschließen innerhalb einer Zeit, die sich unablässig verwandelt und fortgestaltet, wer innehalten, indes ihn die Strömung weitertreibt, wer zu schauen aufhören in einer Sphäre, wo die Horizonte unablässig wachsen und weiterschreiten? Alles Zielmäßige erschöpft sich. – Nur wo das Ziel ins Unendliche und Universalische hinausgeht, verbietet sich der Stillstand. Vielleicht hat Großvater Reclam, als er seiner bescheiden geplanten Serie den Namen »Universal-Bibliothek« gab, nicht geahnt, zu welcher Verpflichtung und Aufgabe er damit sein eigenes Leben und drei anderer Geschlechter aufrief. Hier wie immer wurde die Größe der Aufgabe erschaffen, drei Generationen haben sie gefördert, ohne sie je vollenden zu können, jeder dem nächsten neue Möglichkeiten überlassend und damit das Glück schöpferischer Tätigkeit.
Was dies für Deutschland bedeutet, daß diesem wissensbegierigen und kenntnisfreudigen Volke zu billigstem Preise alles Wesentliche der ganzen Nation zugänglich, alles Fremde vermittelt und so die Möglichkeit geboten war, das individuelle Weltbild zu erweitern, das läßt sich heute nicht mehr ausmessen, aber gewiß, wenn diese Nation heute in der Bildungsleistung an der ersten Stelle Europas steht, so dankt sie dies nicht zum geringsten Teile diesem großartigen Unternehmen, das allzu oft als ein bloß privates oder literarisches gewertet wird. In Wirklichkeit hat es wie kein anderes vielleicht innerhalb der deutschen Verlegerzunft mitgeschaffen an dem, was einmal Jean Paul mit so glücklichem Wort »Weltseitigkeit« der Deutschen nannte, die Fähigkeit, nach allen Seiten zu blicken, sich dem Fernsten zu verbinden und aus eingeborenem metaphysischen Geiste alles Einzelne als Teil der Gesamtheit zu begreifen. Was ihr Schöpfer damals zufällig zugreifend, aus dunklem Instinkte blind im voraus entschied, als er die kleine Reihe kühn »Universal-Bibliothek« nannte, hat weltbildend auf vier oder fünf Geschlechter der Deutschen gewirkt und steht heute als die vollkommenste Enzyklopädie jedem Gebildeten zur Seite, unerschöpflich und unerschöpfbar, unabgeschlossen, weil unabschließbar, dauernder Steigerung fähig. Und wir sind gewiß, sie wird, so groß begonnen, sich auch weiterhin groß fortführen und den kommenden Generationen ebenso notwendig und entscheidend sein, wie sie es den früheren gewesen ist.
Abschiedsbrief Stefan Zweigs – Declaracão
E he ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem
Weitere Kostenlose Bücher