Stephane Hessel - ein Jahrhundertleben
französische Armee einzutreten. Mein Gefühl sagte mir: Ich gehöre zu Frankreich und muss dem Land dienen. Dann kam der Krieg, den ich mir wahrlich nicht gewünscht hatte. Und so wurde ich französischer Offizier.
Sie haben zunächst Philosophie studiert und wurden 1939 eingezogen. Im Gegensatz zu vielen Franzosen haben Sie sich nach der Kapitulation Frankreichs für die Résistance, also die Fortsetzung des Kampfes, entschieden. Weshalb?
S H – Ich wollte die Niederlage nicht akzeptieren. Es stimmt, viele haben sich mit dem Regime des greisen Marschall Pétain abgefunden. Ich nicht. Pétain war erzkonservativ, er verstand sich mit dem spanischen Diktator Franco. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Außerdem waren wir doch bei den Engländern im Wort, nicht aufzugeben. Also stand für mich von vornherein fest: Der Krieg kann jetzt nicht aufhören! Ich wollte die Niederlage nicht hinnehmen und bin dem Ruf von Charles de Gaulles gefolgt, der von London aus den Widerstand organisierte.
In England wurden Sie dann zum Agenten ausgebildet.
S H – Ein Freund überzeugte mich, dass ich nicht zuletzt wegen meiner Sprachkenntnisse für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit besonders geeignet sei. Ich sollte also Spionageaufträge durchführen. Dafür war eine weitere Schulung notwendig, bis ich schließlich auf eine Mission nach Frankreich geschickt wurde, um als Funker hinter den deutschen Linien eingesetzt zu werden.
Die Tatsache, dass ein solcher Einsatz mit Lebensgefahr verbunden war, hat Sie nicht abgeschreckt?
S H – Das war mir bewusst. Im Krieg steht das eigene Leben auf dem Spiel. Entweder man kämpft, und dabei kann man sterben, oder man macht nicht mit. Das gilt für den Piloten ebenso wie für den Spion am Boden.
Sie wurden verhaftet, nachdem ein Mitkämpfer der Résistance unter Folter Hinweise auf Ihren Aufenthaltsort in Paris gegeben hatte. Die Gestapo hat auch Sie gefoltert. Was geschieht mit einem Menschen in einer solch schrecklichen Situation?
S H – Zunächst stellte ich fest: Der Körper machte irgendwie nicht mit, machte schlapp. Der Geist arbeitete dagegen auf Hochtouren. Ich überlegte: »Was sage ich jetzt? Was muss ich tun, um aus dieser Lage herauszukommen?« Jedenfalls habe ich durchgehalten. Ich wurde nicht gebrochen und verriet nichts von dem, was ich nicht verraten wollte.
Aber die Furcht, unter Folter doch etwas preiszugeben, war vermutlich ständig da.
S H – Ja, das stimmt. Auch wenn man sich sagt: Ich habe nichts Wichtiges weitergegeben, bleibt die Furcht, dass das Unwichtige doch von Bedeutung sein konnte. Ja, diese Angst war da.
In den Situationen, in denen Sie gequält wurden, entsteht, denke ich, ein innerer Protest, eine ohnmächtige Wut. Gegen wen richtete sich dieses Aufbegehren – gegen den Gestapo-Schergen, der Sie folterte, oder auch gegen Adolf Hitler, der dieses verbrecherische System errichtete?
S H – Natürlich gegen den, der da zuschlug, der die schmerzhaften Ohrfeigen verpasste, der einen an den Stuhl fesselte und den Kopf unter das Wasser drückte. Hitle r – nein, an den dachte ich in solchen Augenblicken weniger. Die Folter stärkte auch den Überlebenswillen. Man wusst e – du musst jetzt stark bleiben, weil du unbedingt überleben willst. Und es kommt Glück dazu. Im KZ kam ich nicht in den Typhus-Block und wurde nicht erschossen. Ich hätte hingerichtet werden sollen, aber es geschah nicht. Ich habe manches erlitten, gewiss, aber ich habe alles überstanden. Ich empfand Genugtuung darüber, dass es weiterging. Somit hatte der Krie g – und das sage ich of t – auch eine positive Erfahrung für mich.
Die Frage bleibt: Wie haben Sie es immer wieder geschafft, lebensbedrohliche Situationen zu überstehen?
S H – Ich bin heute noch stolz darauf, dass ich den SS-Mann, der uns nach der Flucht aus dem Außenlager Rottleberode festnahm, davon überzeugen konnte, uns wieder ins Strafbataillon zu schicken, statt uns zu erhängen oder zu foltern. Strafbataillo n – das klingt schrecklich, war aber besser, als in den Tunneln des KZ Mittelbau-Dora zu schuften. In ganz schwierigen Situationen gelingen mir gewisse Dinge. Wenn man in Buchenwald eine Kartoffel organisierte, war das etwas Gelungenes. Das Gelingen ist enorm wichtig.
Wichtig war wahrscheinlich auch, auf der Gegenseite jemanden anzutreffen, der sich überreden ließ und eine Spur von Menschlichkeit erkennen ließ. Haben Sie das öfter erlebt?
S H – Nein, nicht öfter, es kam vor. Die
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