Stephane Hessel - ein Jahrhundertleben
Vorwort
Botschafter einer besseren Welt
An Stéphane Hessel ist eigentlich alles außergewöhnlich. Mit seinen 9 3 Jahren verfügt der gebürtige Berliner, der seit 1937 die französische Staatsbürgerschaft besitzt, über eine erstaunliche geistige Beweglichkeit, die er in zahllosen Gesprächen und Interviews immer wieder unter Beweis stellt. Bei seinen Auftritten, etwa beim Kunstfest in Weimar im August 2011, begeistert er sein Publikum derart, dass die Menschen ihm stehend applaudieren. Dabei sagt der alte Mann Sätze, die auch Eltern ihren heranwachsenden Kindern oder Pädagogen den Schulabgängern mit auf den Weg geben könnten: »Lasst euch nicht alles gefallen! Empört euch! Engagiert euch!«
Seine Gedanken hat Hessel in zwei Schriften zusammengefasst: Empört euch! und Engagiert euch ! – die eine umfasst 3 2 Seiten, die andere 6 0 Seiten; beide wurden ursprünglich in Frankreich veröffentlicht. Sie erreichten Millionenauflagen und wurden bereits in viele Sprachen übersetzt. Wie kommt es, dass dieser Mann, der weder Guru noch politischer Missionar ist, so viele Menschen in seinen Bann zieht? In erster Linie ist es gewiss seine Lebensgeschichte, die fast jedem seiner Sätze ein besonderes Gewicht verleiht.
Stéphane Hessel war Widerstandskämpfer, der sich mit der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht nicht abfinden wollte, sondern in den Untergrund ging und gegen die Besatzer kämpfte. Er litt als Häftling in Buchenwald und anderen Konzentrationslagern, die er durch ein fast abenteuerlich zu nennendes Glück überlebte. »Ein Überlebender bin ich«, sagt er in einem Interview. »Mehrere Male hätte ich den Tod erleiden sollen während des Krieges. Daher die Verantwortung. Ich setze mich jetzt ein, wo auch immer die Menschenrechte und die ursprünglichen Werte, mit denen ich groß geworden bin, verletzt sind.«
Am Sitz der Vereinten Nationen in New York schrieb er 1948 an der UN-Charta der Menschenrechte mit. Als französischer Diplomat setzte er sich dafür ein, Krisenherde und bewaffnete Konflikte zu entschärfen und einzudämmen. Heute noch reist er zu den Brennpunkten, etwa im Gaza-Streifen, um Hilfe zu organisieren.
Stéphane Hessel ist nicht der zornige alte Mann, der zur Rebellion aufruft. Vielmehr hat sich seine Botschaft im Laufe seines langen Lebens kaum verändert. Er stand und steht weiterhin an der Seite der Schwachen, Unterdrückten und Ausgegrenzten. Was ihn umtreibt, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Die Diskriminierung von Migranten, die Kluft zwischen Arm und Reich, die immer größer wird; die Gier der Finanzwelt, die er als »eine einzige Schande« bezeichnet, und der mangelnde Respekt vor der Erde, die durch brutales Gewinnstreben existenziell bedroht ist. Die Beschädigung des Planeten lasse sich nur noch durch globales Handeln überwinden, betont er.
Alles, was Hessel sagt, trägt er mit einer erstaunlichen Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit vor, selbst wenn es sich um harte Anklagen handelt. So spricht er von der »Diktatur der Finanzmärkte«, die Demokratie und Frieden in vielen Ländern bedrohe. Der ehemalige Diplomat gehört zu den entschiedenen Verfechtern eines gemeinsamen Europas. »Buchenwald war der Anfang von Europa«, erklärt er. Im KZ sei den Häftlingen klar geworden: »Es gibt keine Antwort als die, Europa zu bauen.«
Das überwältigende Echo auf seine Worte hat gewiss auch mit den Ängsten vieler Menschen zu tun, die Welt könnte tatsächlich aus den Fugen geraten, die globale Bedrohung sei nicht mehr zu stoppen. Stéphane Hessel spricht ihnen nicht nur Mut zu. Er verkörpert ein wiederum erstaunliches Maß an Zuversicht. Den vielfältigen Gefahren könne begegnet werden, wenn möglichst viele sich zur Wehr setzten, versichert er immer wieder. Er selbst ist schließlich der Beweis dafür, dass Überleben auch unter schwierigsten Umständen möglich ist. Deswegen fallen seine Appelle durchweg auf fruchtbaren Boden: »Ich rufe euch alle auf: Ihr müsst euch nicht nur empören, ihr müsst euch auch engagieren, und ihr müsst Vertrauen haben!«
Ein Jahrhundertleben
Im Häuserblock an der Rue Antoine Chatin im XIV . Arrondissement von Paris führt neben dem Fahrstuhl eine schmale Holztreppe zur Wohnung von Christiane und Stéphane Hessel. Es ist früher Samstagvormittag. Hessel trägt einen dunkelgrauen Anzug sowie ein blütenweißes Hemd mit einer bunten Krawatte. Am Revers steckt eine kaum sichtbare Nadel: Stéphane Hessel,
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