Sterblich
kurzen lichten Momenten, in denen ihre Augen funkeln und sie etwas registriert, sei es eine Farbe oder eine Bewegung. Dann zieht sie sich wieder an einen Ort zurück, an dem sie für niemanden erreichbar ist.
»Ich habe mir so ein Ding zugelegt«, sagt sie und nimmt ein Handy aus der Tasche. Es sieht wie ein ganz normales Nokia-Handy aus.
»Die kriegt man in Norwegen nicht, nicht solche.«
Sie wedelt mit dem Handy herum.
»Das ist nicht einfach ein Handy, sondern auch eine Elektroschockpistole. Es gibt tatsächlich Leute, die so etwas herstellen. Ich habe es für einen runden Tausender in Amerika bekommen. Und heutzutage haben ja alle Handys, nicht wahr? Die Leute tun ja nichts anderes mehr, als ständig auf diesen Dingern herumzutippen, wo sie gehen und stehen. Wenn sie nicht irgendeinen Blödsinn reden. Ich habe das Handy immer in der Hand, egal wo ich bin. Das fällt niemandem auf. Und wenn jemand was von mir will, bin ich bereit. Dann verpasse ich ihm achthunderttausend Volt direkt in den Körper. Zzzzzzt! Ich sage Ihnen, da ist man erst mal außer Gefecht gesetzt.«
Er sieht zu Yngve hinunter und muss nicht weiter überzeugt werden.
»Und Stefan wusste, dass Sie so ein Gerät haben? Hat er es benutzt?«
Sie zögert, nickt dann.
»Hat er Sie gefragt, ob er es sich ausleihen darf?«
»Nein. Er hat es einfach genommen – an diesem Abend. Ich war bereits zu Bett gegangen. Tags darauf habe ich gleich gemerkt, dass jemand es benutzt hat, denn es lag nicht mehr dort, wo ich es abgelegt hatte. Ich bin in diesen Dingen sehr genau. Ich merke alles.«
»Haben Sie ihn damit konfrontiert?«
»Nicht sofort. Als ich aufgewacht bin, war er bereits in der Schule. Aber gestern Nachmittag ist es zur Sprache gekommen, und da, da …«
Sie beginnt wieder zu weinen, redet aber trotzdem weiter.
»Ich habe ihn gefragt, was er mit meinem Handy gemacht hat und warum er es sich ausgeliehen hat. Als er nicht antwortete, hat Yngve auf ihn eingeredet, und da, da wurde alles …«
Sie schüttelt den Kopf.
»Da kam alles raus, was Stefan so lange in sich hineingefressen hatte, er wollte, dass Yngve zugibt, was er getan hat, er hat von ihm gefordert, dass er sich selbst und uns gegenüber ehrlich ist. Stefan ist fast Amok gelaufen, er wollte sich mit Yngve schlagen, und in der Hitze des Gefechts hat er dann erzählt, was er getan hat, wozu er mein Handy gebraucht hat, und das alles …«
Sie schüttelt wieder den Kopf.
»Das war so schrecklich. So …«
Sie sieht zu ihrem Mann, der noch immer mit hängendem Kopf dakauert.
»Das ist so schrecklich, so …«
Sie schließt die Augen.
»Was ist geschehen, nachdem Stefan den Mord gestanden hat? Er war doch allein, als er starb.«
Ingvild seufzt schwer.
»Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, ich bin aus der Wohnung gerannt, habe eine vage Erinnerung daran, dass Yngve mich oben am St. Hanshaugen geschüttelt hat, damit ich wieder zu mir komme. Ganz oben. Er hat behauptet, dass er mich schon seit Stunden gesucht hat. Kann schon sein, dass ich da hingegangen bin. Oder gelaufen, ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht. Und als wir zurückkamen, da …«
Wieder beginnt sie, still zu weinen. Er sieht sie zittern, die eine Hand vor dem Mund. Dann zieht sich ein Schleier vor ihre Augen. Sie starrt nach vorn an die Zeltwand, ehe sie plötzlich wieder glasklar ist.
»Woher haben Sie gewusst, dass wir hier sind?«
»Ich habe heute Morgen mit dem Jungen an der Rezeption der Schule gesprochen.«
»Gorm?«
»Gut möglich.«
»Wie …?«
Er hebt die Hände.
»Er hat mir nur gesagt, Yngve habe heute Morgen angerufen, um dem Rektor mitzuteilen, dass er heute eine Zelttour macht. Weil der Chef nicht da war, ist Gorm ans Telefon gegangen. Ich habe zwei und zwei zusammengezählt, und da war plötzlich alles klar. Eigentlich war es pures Glück, dass ich Sie gefunden habe. Ich dachte einfach, dass alles, was Ihnen widerfahren ist, irgendetwas mit diesem Zelt zu tun hat, mit diesem Loch«, sagt er und zeigt zu Boden. »Und weil alle vergeblich nach Ihnen suchen, habe ich alles auf eine Karte gesetzt und bin hierher. Weil Yngve das von der Zelttour gesagt hat.«
Ingvild sieht ihn lange an und nickt.
»Ich kann mich, was gestern angeht, an beinahe nichts erinnern. Ich hatte keine Tabletten mehr, die hat vermutlich Stefan genommen, sodass ich nicht schlafen konnte. Vermutlich hätten die Medikamente daran aber auch nichts geändert.«
Ihre Augen waren blutunterlaufen.
»Warum sind Sie
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