Sterblich
etwas verändert, als auch er sieht, dass Henning bereits an seinem Platz ist.
»Du bist aber früh da«, sagt Gundersen zu Henning.
Er nickt, antwortet aber nicht und sieht zu Heidi, die wortlos Platz nimmt.
»Wie ist es gestern gelaufen?«, fragt Gundersen.
Henning sieht ihn an. Idiot, denkt er. Hast du denn meinen Artikel nicht gelesen?
»Gut.«
»Waren viele bereit zu reden?«
Gundersen setzt sich und schaltet seinen Computer ein.
»Genug.«
Gundersen verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln und blickt zu Heidi hinüber. Henning weiß, dass sie zuhört, sich das aber nicht anmerken lassen will. Er wendet sich wieder dem Bildschirm zu.
Salzige Wellen, Henning. Das Meer.
Das wird noch interessant werden.
Etwas später sagt Heidi mit ihrer Chef-Stimme, dass es Zeit für die Besprechung ist. Gundersen und Henning stehen wortlos auf und trotten ihr hinterher. Dann schert Gundersen aus der Reihe aus und wartet neunundzwanzig Sekunden auf eine Tasse Kaffee, was Henning einen Augenblick allein mit seiner Chefin beschert. Er bereitet sich auf die nächste Standpauke vor.
Stattdessen sagt sie: »Das ist ein schöner Artikel geworden, Henning.«
Das ist nichts Neues für ihn. Wohl aber die Erkenntnis, dass auch Heidi Empfindungen hat. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass er beim nächsten Mal schneller abliefert, lässt es aber bleiben. Er ist sich sicher, dass Heidi seine Gedanken liest, als Gundersen das Besprechungszimmer betritt und ihn rettet.
»Kommt sonst keiner mehr? Nur wir drei?«, fragt er.
»Ja.«
»Und was ist mit Jørgen und Rita?«
»Jørgen arbeitet heute am News-Desk, und Rita hat die Spätschicht.«
Gundersen nickt. Heidi setzt sich ans Kopfende des Tischs und holt einen Zettel hervor. Sie geht die Aufgaben des Tages durch, womit sie schnell fertig ist. Henning weiß, dass der News-Desk, respektive die Leute, die dort arbeiten, fortlaufend Artikel ins Netz stellen und sich um das meiste selbst kümmern. Nicht deshalb sind sie heute hier versammelt. Heidi will ihnen lediglich zeigen, dass sie die Chefin ist und den Überblick hat.
Dann kommt das eigentliche Thema zur Sprache: »Wo stehen wir in Bezug auf diese Steinigung? Haben wir heute etwas, womit wir die Berichterstattung fortsetzen können?«
Henning und Gundersen tauschen Blicke. Plötzlich ist er wieder in der Rolle des Frischlings, der auf den genialen Gedankenblitz wartet. Gundersen nimmt einen Schluck Kaffee und beugt sich über den Tisch.
»Die Polizei scheint überzeugt davon zu sein, dass Marhoni der Täter ist. Ich habe eine gute Quelle im Haus, über die ich vielleicht etwas über die Verhöre in Erfahrung bringen kann.«
Heidi nickt und notiert etwas auf ihrem Block.
»Noch mehr?«
»Vorläufig nicht. Ich muss das erst mit meinen Quellen prüfen und abwarten, ob da noch was kommt.«
Heidi nickt wieder. Dann sieht sie zu Henning hinüber.
»Henning, was hast du heute?«
Heidi hat ihren Stift gezückt. Er ist es nicht gewohnt, Bericht zu erstatten, sodass er eine Sekunde zögert, bevor er sich räuspert.
»Ich weiß noch nicht ganz genau.«
Heidi, die Notizen machen will, hält inne.
»Du weißt was noch nicht ganz genau?«
»Ich habe ein paar Ideen, weiß aber noch nicht, ob die uns weiterbringen.«
Sein Problem ist, dass er weder weiß, ob es ihm gelingen wird, die Leute aufzuspüren, mit denen er reden will, noch ob sie ihm etwas sagen können, das relevant genug ist, um es schon jetzt hier in dieser Besprechung zu erwähnen. Weshalb er lieber nichts sagt.
»Was für Ideen, Henning?«, fragt sie. Er hört die Skepsis in ihrer Stimme und bemerkt sehr wohl den Blick, den sie Gundersen zuwirft.
»Es gibt da an Hagerups Schule noch ein paar Leute, mit denen ich reden möchte, wenn sie heute da sind.«
»Human touch also. Die Schiene ist abgehakt, Henning.«
»Es geht nicht um Human touch, sondern um etwas ganz anderes.«
»Um was?«
Er zögert wieder, würde gerne von Anettes Blick erzählen, von der Kombination der Hadd-Strafen, die keinen Sinn ergeben, traut seinen Kollegen aber nicht recht. Noch nicht. Er weiß, dass er mit ihnen zusammenarbeiten sollte, doch sie müssen sich sein Vertrauen erst verdienen. Und das hat weder was mit Profilneurose noch mit der Penisgröße zu tun.
»Ich glaube, dass es in Hagerups Privatleben und in ihrem Background noch mehr gibt, das für den Fall von Interesse sein könnte«, sagt er. »Die Quellen in der Schule können vielleicht ein klareres Bild davon
Weitere Kostenlose Bücher