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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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Chor seines Vaters zu reden. Henning fragte, ob Lukas auch in diesem Chor sei, was er verneinte.
    Ein paar Wochen später versuchte Henning, Kontakt zu einer Frau aus dem Chor aufzunehmen, Susanne Opseth, die Jørstad als eine der Letzten lebend gesehen haben sollte. Henning suchte sie auf und trug einiges Material über sie und den Chor zusammen. In einem dieser Artikel aus den frühen Neunzigern – vor der Zeit des Internets – fand er ein Bild von ihr im Chor, während Jørstad senior dirigierte. Henning bemerkte es nicht gleich, aber als er das Bild später noch einmal genauer anschaute, entdeckte er Lukas in der letzten Reihe.
    Der Sohn des Pastors hatte also gelogen, als er gesagt hatte, er sänge nicht im Chor. Henning fragte sich, warum er über etwas derart Triviales die Unwahrheit gesagt hatte. Dabei war die Antwort ganz einfach. Irgendetwas war mit diesem Chor, von dem Lukas nicht wollte, dass Henning es herausfand.
    Für ihn war das Grund genug, in die Tiefe zu gehen, er interviewte den Rest des Chors, und es dauerte nicht lang, bis er herausfand, dass Lukas aus Protest gegen seinen Vater den Chor verlassen hatte. Er wollte ihm in aller Öffentlichkeit eine Niederlage zufügen. Olav Jørstad verlangte nämlich nicht nur im Chor Disziplin. Sie äußerte sich auch in einer strengen, alltäglichen Routine, dem Pauken von Bibelversen, einer harten Erziehung und wenig Liebe. Und in der schroffen Ablehnung von Lukas’ aufkeimender Beziehung zu der gleichaltrigen Agnes. Olav mochte das Mädchen nicht und verlangte von seinem Sohn, keine Zeit mit Agnes zu verschwenden.
    In einem späteren Polizeiverhör sollte sich dann herausstellen, dass all die Jahre der Erniedrigung und Frustration eines Abends ein Ventil suchten und zur Katastrophe führten, als der Junge mit seinem Vater ein Netz auslegte. Lukas schlug seinem Vater mit einem Ruder an den Kopf, sodass der über Bord ging. Danach sorgte er dafür, dass das Boot kenterte, und schwamm an Land.
    Lukas war ein guter Schwimmer. Damals war er bereit gewesen, die Konsequenzen für seine Tat zu tragen. Für das, was er getan hatte, um dem eisernen Griff seines Vaters zu entkommen. Aber Lukas hatte Glück. Sein Vater wurde nie gefunden.
    Henning arbeitete mit der Polizei vor Ort zusammen und konnte mit allen Details noch an dem Tag an die Öffentlichkeit gehen, an dem die Polizei Lukas festnahm.
    Er hat es nicht überprüft, aber aller Wahrscheinlichkeit nach sitzt Lukas noch immer im Gefängnis. Und das alles wegen eines Bildes in einer Lokalzeitung vor vielen, vielen Jahren.
    Research. Noch der schwächste Windhauch kann ein Kartenhaus zum Einsturz bringen.
    Henning liebt diese Arbeit, es gefällt ihm, Dinge über Menschen herauszufinden. Insbesondere, wenn diese Menschen ihn interessieren oder etwas getan haben, das ihn fasziniert.
    Das Internet ist ein geniales Hilfsmittel für diese Recherchen. Anfänglich mochte er das Internet nicht, hat es regelrecht abgelehnt, doch jetzt kann er sich sein Leben nicht mehr ohne dieses Hilfsmittel vorstellen. Fährt man erst einmal einen Mercedes, kehrt man nie wieder zum Tretroller zurück.
    Die Recherchen, die er jetzt unternimmt, bringen keine wirklich neuen Erkenntnisse für die Arbeit, die er sich für diesen Tag vorgenommen hat. Seine Strategie ist noch nicht ausgearbeitet, als Heidi Kjus und Iver Gundersen zusammen die Redaktion betreten. Henning hört nicht, worüber sie reden, spürt aber trotzdem seinen Puls steigen. Gundersen lächelt, er sieht zufrieden aus, vermutlich mit sich selbst, während Heidi wie immer ein ernstes Gesicht macht. Sie strahlt konstant den Vorsatz aus: Heute bringen wir wichtige News.
    Heidi lässt sich nur selten zu einem Lächeln hinreißen, sie sieht darin ein Zeichen von Schwäche. Als sie bei der Web-Zeitung begann, ging sie freitags oft noch mit, um ein Wochenendbier zu trinken. Sie betrieb Konversation und war angenehm im Umgang, betrank sich aber nie. Mittlerweile kann er sich Heidi Kjus beim besten Willen nicht mehr in der Stadt vorstellen. Denn jetzt ist sie die Chefin. Und Chefs müssen leiten. Wenn sie müde ist, lässt sie sich das nicht anmerken. Sie lacht grundsätzlich nicht über scherzhafte Bemerkungen anderer, denn sich während der Arbeitszeit von Humor verführen zu lassen, schränkt in ihren Augen den Fokus ein.
    Heidi bemerkt ihn, während sie noch mit Gundersen spricht. Sie gestikuliert mit den Händen. Gundersen nickt. Henning sieht, dass sich in Gundersens Gesicht

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