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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Gesicht als das Einzignackte zu sehen, ist man gleichsam gezwungen, ihre ganzen Körper zu mustern, was wenig Vergnügen macht. Höchstens zu erraten: ein Arbeiter, ein Intellektueller, ein Sportler, ein Angestellter. Im großen ganzen sind unsere nackten Körper durchaus peinlich, weil ausdruckslos, bestenfalls natürlich, meistens etwas komisch. Ich habe mich mit einem deutschen Juden verbündet; wir seifen uns gegenseitig den Rücken, da auch er nicht überall hinkommt, und sind uns darin einig, daß man täglich duschen müßte. Nach einigem fast knabenhaftem Gekreisch wegen der plötzlichen Kälte des Wassers, womit uns der Oberwärter in den Trockenraum treibt, sind alle sehr still, frottieren sich und haben Gesichter von säuglinghafter Rosigkeit, dazu Haare wie Buben. Es sind außer mir, wie mich dünkt, keine Schwerverbrecher dabei. Dank dem Umstand, daß sie mich (als ›Stiller‹) ebenfalls ans Ende des Alphabets stellen, kann ich mich jedesmal noch eine Weile mit dem deutschen Juden unterhalten. Die Körperpflege in der Schweiz, finden wir beide, steht in einem bemerkenswerten Widerspruch zu ihrer sonstigen Reinemacherei.Er erzählt mir von seiner hiesigen Wohnung, wo er, laut Vertrag, ebenfalls nur am Wochenende mit warmem Wasser duschen durfte. Dann Einzelmarsch in die Zellen, das Frottiertuch um den Hals.
     
     
    Heute erhalte ich folgenden Brief:
    »Lieber Bruder! – Du kannst dir denken, daß ich seit dieser Nachricht von der dortigen Kantonspolizei fast kein Auge mehr geschlossen habe, auch Anny ist ganz aufgeregt. Anny ist meine liebe Frau, ihr werdet euch sicher gut mögen! Aber nimm es nicht übel, daß ich nicht gleich nach Zürich komme, was im Augenblick hier rein unmöglich ist. Hoffentlich bist du wenigstens nicht krank, lieber Bruder, das Foto hat mich erschreckt wegen deiner derzeitigen Magerkeit, so daß ich dich wahrhaftig kaum kenne. Bist du schon bei Vater im Altersasyl gewesen? Laß dich ja nicht von ihm verwirren, er ist halt alt geworden und du kennst ihn ja. Dann weißt du, daß Mutter gestorben ist. Sie hat weniger gelitten, als man leider hat befürchten müssen. Wir werden dann miteinander auf ihr Grab gehen. Bei der Meldung von der Kantonspolizei, daß du wieder da bist, habe ich am meisten grad an Mutter denken müssen, denn sie hat dich manchmal von Stunde zu Stunde erwartet, ohne es zu verraten, aber wir merkten es nur zu gut, warum sie dann länger aufblieb, weil sie im stillen ganz überzeugt war, du kommst heute abend. Mutter hat dich immer in Schutz genommen, nur daß du’s weißt, und nur jedesmal gesagt, daß du hoffentlich wenigstens glücklich bist mit deinem Leben.
    Wir sind natürlich sehr neugierig, lieber Bruder, denn hier hat sich nicht viel ereignet, ich bin hier Verwalter, mit meiner Farm in Argentinien ist also nichts geworden, denn man konnte Mutter gerade in jener Zeit ganz unmöglich einfach allein lassen, aber es geht uns sehr ordentlich.
    Hast du eigentlich noch gehört, daß euer Freund Alex sich das Leben genommen hat? Man sagte es wenigstens, er hat sich unter den Gasherd gelegt, glaube ich. Oder war Alex nicht euer Freund? Ich will dir aber nicht lauter Todesanzeigen auftischen, sondern dir nochmals sagen, wie sehr wir uns freuen. Von Julika brauche ich dir wohl nicht zu schreiben, heute soll es ihr ja viel besser gehen laut Zeitung. Sie kam damals noch zu Mutters Begräbnis. Ich begreife schon, daß sie uns als deine Familie dann nicht mehr sehen wollte. Aber sie lebt wohl noch immer in Paris. Vielleicht hast du Julika schon gesprochen.
    Hoffentlich kränkt es dich nicht, ich muß jetzt leider abbrechen, denn wir haben gerade Obstschau mit einem Besuch von einem Bundesrat, und ich habe kaum noch eine richtige Frage nach deinem Leben und deiner Zukunft gestellt. Ich wünsche dir, lieber Bruder, daß du sehr bald frei bist! Bis dahin herzlich
    dein Wilfried.
     
     
    Sobald ich vom Betrieb hier für zwei Tage loskomme, werde ich dich ganz sicher besuchen, heute wollte ich dir nur schreiben, daß du natürlich ohne weiteres jederzeit bei uns draußen wohnen kannst.«
     
     
    Man glaubt mir überhaupt nichts, und am Ende muß ich wohl noch schwören, daß die Finger, womit ich schwöre, meine eigenen Finger sind. Es ist wirklich zum Lachen. Heute sage ich zu meinem Verteidiger:
    »Natürlich bin ich Stiller.«
    Da starrt er mich an:
    »Was soll das heißen?«
    Zum allerersten Mal, siehe da, erwacht der Gedanke in seinem rechtschaffenen Hirn, daß

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