Stoerfall in Reaktor 1
mit Karlotta in die Gästewohnung in ihrem Haus umgezogen ist und gar nicht mehr mit seinem Vater reden wollte? Oder als sie auch mit ihm nicht mehr reden wollte, weil er sein Schulbetriebspraktikum im Kernkraftwerk gemacht hat? »Im Werk«, wie die Leute hier nur sagen, als wollten sie unter allen Umständen vermeiden, die Worte »Atom« oder »Kernkraft« laut auszusprechen.
Wobei dieses »im Werk« Lukas manchmal vorkommt, als wäre es fast liebevoll gemeint. Nein, liebevoll ist nicht das richtige Wort, überlegt er, aber zumindest spielt so etwas wie Stolz mit hinein. Stolz auf »ihr« Werk. Das ihnen allen gut bezahlte Arbeit verschafft. Das ihnen ermöglicht, ein eigenes Haus zu haben, mit Sauna im Keller und Pool im Garten und mindestens zwei Autos vor der Tür. Das ihnen gerade erst letztes Jahr noch ein neues »SpaÃbad« oben am Waldrand beschert hat, auÃerdem eine Tennishalle und ein Kulturzentrum mit Bücherei und eigener Theaterbühne. Und demnächst soll sogar noch ein Golfplatz angelegt werden, um dann noch mehr Touristen in die Region zu locken, auf dass es ihnen auch in Zukunft gut gehen wird â noch besser als bisher schon â und sie nur müde lächeln können, wenn in den Nachrichten mal wieder erzählt wird, dass alles den Bach runtergeht. Kann schon sein, irgendwo anders vielleicht, aber doch nicht in Wendburg!
»Das Werk tut viel Gutes für uns.« Wie oft hat Lukas den Satz wohl schon gehört? Ein bisschen wie früher, denkt er, im Mittelalter, wenn die Leute zufällig mal einen Burgherrn erwischt hatten, der clever genug war, sie nicht bis aufs Blut auszubeuten, sondern ihnen ab und an auch mal einen Ochsen oder ein paar Fässer Bier für ein ordentliches Zechgelage genehmigte. Woraufhin er erst mal wieder Ruhe hatte, weil sie ihm alle dankbar waren und die nächsten Wochen ohne zu murren aufs Feld wankten, um die gräflichen Vorratskammern zu füllen. Und später dann genauso, als es die ersten Fabriken gab und die Arbeiter stolz darauf waren, dass sie dazugehörten, dass sie ihr Häuschen hatten, ihr eigenes Schwein im Stall, ihren Gemüseacker im Garten, und dass ihre Kinder in eine richtige Schule gehen durften. Dafür haben sie so gut wie alles ertragen, haben den Rücken krumm gemacht, sich zu Tode geschuftet und keine Widerworte gegeben, wenn »der Herr« verlangt hat, Hunderte von Metern unter der Erde in engen Stollen ihr Leben für ihn zu riskieren.
Jannik war der Erste, der in der Schule mal etwas in dieser Richtung gesagt hat. Dass er nicht kapiere, warum jeder ständig so tut, als ob alles in Ordnung sei. Und dass er manchmal Angst habe, ob das AKW wirklich so sicher ist, wie alle immer behaupten. Aber er war auch so ziemlich der Einzige! Klar, die anderen haben ihm sofort vorgeworfen, dass er nicht wirklich dazugehöre und deshalb keine Ahnung habe. Und es stimmt schon, Janniks Vater ist einer der wenigen, die nichts mit dem AKW zu tun haben. Oder die zumindest nicht im AKW arbeiten. Er ist einer der letzten Bauern, die es in Wendburg noch gibt. Und die Wiesen unten am Fluss, auf denen jetzt das AKW steht, waren früher nichts als matschige Kuhweiden, die Janniks Vater dann für gutes Geld an den Energiekonzern verkauft hat. Also in gewisser Weise hat auch ihm »das Werk« viel Gutes gebraucht. Das ist auch einer der Gründe, warum sich Jannik in letzter Zeit immer wieder mit seinem Vater streitet.
»Er hätte ja nicht verkaufen müssen«, hat Jannik mal zu Lukas gesagt. »Dann hätten sie auch das AKW da nicht bauen können! Aber er behauptet einfach, ohne das Geld wäre unser Hof über kurz oder lang platt gewesen. Und was ist jetzt? Jetzt haben wir das Geld und trotzdem Angst! Mein Alter auch, das weià ich genau. Oder was glaubst du, warum er bei uns gerade einen unterirdischen Bunker im Garten hinter dem Haus bauen lässt? Klasse Idee, echt, da können wir dann die nächsten fünfundzwanzigtausend Jahre sitzen und Tütensuppen fressen, wenn hier alles in die Luft geflogen ist!«
Sie haben alle Angst. Im Geheimen jedenfalls. Nur laut sagt es kaum einer. Aber niemand im Ort ist so blöd, nicht zu wissen, dass es sie jederzeit erwischen kann. Nicht mehr nach Fukushima! Aber es ist, als ob sie mit aller Gewalt an dem festhalten würden, was sie sich einmal als Rechtfertigung ausgedacht haben: Unser AKW ist sicher. Bei uns
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