Stoerfall in Reaktor 1
am nächsten Morgen ihre Koffer gepackt. Auch wenn die Gemeinde alles versucht hat, um die Sache wieder runterzukochen. Eiligst gedruckte Handzettel wurden verteilt:
Böser Streich von Unbekannten. Alles gelogen. Es hat nie einen Störfall gegeben. Es hat zu keinem Zeitpunkt ein Risiko bestanden. Das AKW Wendburg zählt zu den sichersten der Welt. GenieÃen Sie weiterhin sorglos Ihre Ferien in dem idyllischen Landstädtchen Wendburg.
Und einen Gutschein zur kostenlosen Nutzung des Schwimmbads gab es auch noch dazu. AuÃerdem ein Fläschchen Sekt für jeden treuen Feriengast zur Abholung im Rathaus, vom Bürgermeister persönlich überreicht.
Aber mehr als nur ein paar Frühstücksbuffets sind in den Pensionen unbenutzt wieder abgeräumt worden. Und den Sekt muss der Bürgermeister nun selbst trinken oder für eine neue Gelegenheit aufheben. Die Touristen haben buchstäblich die Flucht ergriffen.
Trotzdem ist sich Lukas gerade nicht mehr so sicher, was ihre Aktion gebracht hat. Oder ob sie überhaupt was gebracht hat. AuÃer dem Chaos letzte Nacht und der allgemeinen Empörung, die jetzt herrscht.
Die Kommentare heute Morgen, als er beim Bäcker frische Brötchen geholt hat, waren eindeutig: Irgendwelche Chaoten, die sich einen dummen Witz erlaubt haben. Und die umgehend eingesperrt werden sollten. So was tut man doch nicht! Das heiÃt ja geradezu, das Unglück heraufbeschwören! Aber wenn die erwischt werden, dann können sie sich auf was gefasst machen! Noch haben wir hier Gesetze, die solchem Unfug einen Riegel vorschieben. Und zwar ein für alle Mal.
Es gab niemanden, der vielleicht einfach mal gesagt hätte: Verdammt, Leute, kapiert ihr es eigentlich wirklich nicht? Macht euch doch nichts vor, nur weil plötzlich der Ausstieg aus der Atomkraft beschlossene Sache zu sein scheint, ist es noch lange nicht vorbei. Das, was da letzte Nacht gelaufen ist, hätte genauso gut der Ernstfall sein können! Und dann würden wir hier nicht mehr stehen und jammern, dass wir unsere Brötchen nicht verkauft kriegen, weil sich die Touristen vom Acker gemacht haben. Dann wären wir wirklich am Arsch! Aber nein, kein Wort davon. Null. Niente. Nada.
Mit Jannik hat Lukas noch nicht wieder gesprochen. Auch nicht mit Alex. Den Ball erst mal schön flach halten, haben sie vereinbart, es ist besser, wenn sie nicht zusammen gesehen werden. Heute Abend in der Disco ist immer noch Zeit genug, um ganz zufällig an der Theke mal ein paar Worte miteinander zu wechseln. Wobei er noch nicht weiÃ, ob er überhaupt hingeht ⦠Karlotta hat einen neuen Schub gehabt. Seine kleine Schwester, die an Leukämie erkrankt ist. Heute Vormittag war sie so schwach, dass sie nicht aufstehen wollte und er ihren Kopf stützen musste, um ihr beim Trinken zu helfen. Er hat dann noch an ihrem Bett gesessen und ihr eine Geschichte vorgelesen. Bis sie wieder eingeschlafen ist. Ihr Gesicht war bleich, wächsern. Mit tiefen schwarzen Ringen unter den Augen â¦
Lukas merkt, wie ihm die Tränen in die Augen schieÃen. Er lässt sich rücklings aufs Bett fallen und tastet blind mit der Hand nach dem CD -Player. Bevor er die Lautstärke hochdreht, zieht er sich den Kopfhörer über die Ohren. Goldfrapp . Hannah hat ihm die CD geliehen. Hannah, die echt cool ist, auch ziemlich schräg drauf, aber immer gut für eine Antwort, mit der keiner rechnet. Weder die Lehrer noch einer von ihnen. Dass sie so was wie Goldfrapp hört, hätte Lukas nicht im Traum erwartet. Passt irgendwie nicht zu ihr. Ziemlich kitschig, viele Geigen und so was. Aber eine Melodie, die sich für immer im Kopf festsetzt. Und eine Frauenstimme, die einem echt die Schuhe auszieht: »Sheâs like a little bird, she flies from a to b, to see what she can see, sheâs far away from me â¦Â« Jetzt heult er wirklich. Aber es ist egal. Er lässt die Tränen einfach laufen. Es sieht ihn ja keiner â¦
Er weià nicht mehr, wann er zum ersten Mal angefangen hat, über das verdammte AKW nachzudenken. Als immer mehr Kleinkinder in Wendburg krank wurden? Als dann plötzlich auch bei seiner kleinen Schwester Leukämie diagnostiziert wurde und er miterleben musste, wie sehr ihr die erste Behandlung im Krankenhaus zu schaffen machte? Oder vielleicht als sein Vater und seine Mutter nur noch abwechselnd geheult und geschrien haben und seine Mutter dann kurze Zeit später
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