Stumpfsaft - Bericht aus Bezirk 12 (Dystopische Kurzgeschichten) (German Edition)
nannten
wir diese Flüssigkeit hier im MFA, dem Ministerium für Aufklärung, in das ich
versetzt worden war. Im MFA wurden wir ohne Unterbrechung überwacht, aber es gefiel
mir deutlich besser, als im Gefängnis, in dem ich vorher als Polizist die
Rezyklierung überwacht hatte. Neun Jahre wurden vor meinen Augen Gefangene
vernichtet und ich selbst war es, der den Transport der Gefangenen zur riesigen
Maschine überwachte. Letztlich glich die Maschine einem viel zu großen
Reißwolf, der einen mächtigeren Umfang besaß, als die Turbine eines Flugzeugs.
Irgendwann konnte ich nicht mehr schlafen und Albträume verfolgten mich bei Tag
und bei Nacht. Die schmatzenden Geräusche, als würde man einen Teig mit den
Händen kneten, das Knacken der Knochen, als zerbräche man einzelne Äste. Und
die Schreie. Mit letzter Kraft herausgepresste Schmerzensschreie, die
irgendwann im Schmatzen und Knacken verstummten.
Ich unternahm den ersten Fluchtversuch, wurde geschnappt und
verlor meinen ersten Unterschenkel. Danach kam wurde ich in ein anderes
Gefängnis verlegt. Die gleichen Strafen, die gleichen Abläufe und die gleichen
Maschinen. Gefangene überwachen konnte ich mit einem Bein nicht mehr und Prothesen
erhielten straffällig gewordene Beamte nicht. Ich wurde der Abfüllung zugeteilt
und diese Arbeit war noch schlimmer als meine frühere Aufgabe. Ich
kontrollierte den Abfüllvorgang und überwachte den ordnungsgemäßen Umgang mit
den Abfüllmaschinen. Am Ende der großen Reißwölfe trat das Gehackte aus langen
dicken Leitungen hervor, wurde in die Verteilung befördert und von dort in
Dosen abgefüllt, die umgehend gefriergetrocknet wurden. Es sah aus wie frisches
Hackfleisch, es roch wie frisches Hackfleisch und es war frisches Hackfleisch.
Menschen-Hackfleisch! Obwohl ich nicht mehr mit ansehen musste, wie Menschen
durch den Wolf geschickt wurden, sah ich nun das Resultat. Ich konnte es nicht
erklären, aber dies war viel schlimmer!
Zweiter Fluchtversuch, ein zweites Mal geschnappt und der
verbliebene Unterschenkel gekappt. Der Versuch war an Dilettantismus kaum zu
überbieten und glich einem unbeholfenen Davonhüpfen. Dieses Mal ersparte man
mir die Rückkehr ins Gefängnis und ich erhielt meine letzte Chance hier im
Ministerium. Warum ich nicht einfach geschreddert wurde? Ganz einfach: Die
Führung benötigte jeden einzelnen Beamten! Es gab einfach viel zu wenig
Personal in der Verwaltung und Arbeit war jede Menge vorhanden. Alle
Amputierten, die ihre letzte Chance erhalten hatten, wurden auf entfernte
Außenposten verfrachtet, von denen eine erneute Flucht absolut ausgeschlossen
war. Mich, und etwa tausend andere Beamte, denen die Beine fehlten, hatte es
auf eine winzige Insel der nördlichen See verschlagen, die nur aus schroffen
Felsen und dem Gebäude des MFA bestand. Dieses Gebäude thronte auf der Mitte
der Insel und sah aus, wie ein überdimensionaler Leuchtturm, dem lediglich eine
große Glühbirne fehlte. Kreisrunder Grundriss von mindestens hundert Metern Durchmesser
und 30 Stockwerke, die in die Höhe strebten. In den zahlreichen Büros dieses
Komplexes bearbeiten wir alle Daten der Bürger und Bürgerinnen, die mit der
Zahl 5 begannen. Aufenthaltsorte, Blutgruppen, Gesprächsnotizen,
Bewegungsmuster, Krankheiten, Gewohnheiten, Beziehungen und alles, das man sich
auch nur im Entferntesten vorstellen konnte, wurde beim MFA über jeden Bewohner
des zwölften Bezirks gesammelt. Alles! Sogar Duftproben! Meine Aufgabe im
Speziellen war es, die Bewegungsmuster tabellarisch und grafisch aufzuarbeiten
und etwaige Auffälligkeiten unverzüglich an meinen Vorgesetzten zu melden. Es
wurde beispielsweise streng darauf geachtet, wer ähnliche Muster besaß und oft
mit den gleichen anderen Bürgern zusammentraf. Unsere Vorgesetzten bestanden
allesamt aus Nicht-Amputierten und treuen Gefolgsleuten der geliebten Führung,
irgendwo im weit entfernten Bezirk 0. Das MFA für die Bürger 5 war gut
ausgelastet und der riesige Turm voll besetzt.
Da in der Umgebung der Platz nicht ausreichte, befand sich
der einzige Zugang ins Freie auf dem Dach des Gebäudes. Ein nach innen
geneigter, gläserner Zaun von zwei Metern Höhe, sorgte dafür, dass niemand vom
Hochhaus geweht wurde. Ständig pfiff ein scharfer Wind, der zwar ein Traum für
die vielen alten Windräder auf hoher See war, aber für die niederen Mitarbeiter
des MFA die reinste Hölle. Viele hatten ohnehin schon Schwierigkeiten, sich auf
ihren Beinstümpfen zu halten
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