Sturmsegel
flüsterte sie und rang schwer nach Luft.
Das Herz des Mädchens krampfte sich angstvoll zusammen. Sie durfte nicht sterben!
Sogleich ließ sie die Hand der Mutter los und sprang auf. »Ich bin sofort zurück«, versprach sie und rannte zur Tür. Noch nie zuvor waren ihre Knie so weich gewesen wie in diesem Augenblick. Sogar ihr schlechtes Gewissen wurde zur Nebensache.
*
Der Sturm war inzwischen noch stärker geworden und der Himmel war so finster, als würde gleich die Nacht hereinbrechen. Donner grollte und Blitze zuckten unter der tief hängenden Wolkendecke. Manche von ihnen waren gleißend weiß, andere blau oder violett.
Anneke zog ihr wollenes Schultertuch fest zusammen und beugte sich ein wenig nach vorn, damit die Böen sie nicht so hart trafen. Laub und Stroh prasselten ihr entgegen und setzten sich in ihrem Haar und auf ihrem Kleid fest.
Das erbärmliche Jaulen eines Hundes hallte gespenstisch über den Neuen Markt, den sie mit langen Schritten überquerte. In einem der Ställe in der Mönchstraße wieherten unruhig die Pferde.
So muss es sein, wenn das Jüngste Gericht über uns kommt, dachte Anneke, während sie sich bezwang, nicht ständig stehen zu bleiben und zum Himmel aufzuschauen. Der Gedanke, zu spät zu ihrer Mutter zurückzukehren, ihr keine Hilfe mehr bringen zu können, trieb sie an.
Der Weg in die Heilgeiststraße erschien ihr jetzt wie eine Reise ans andere Ende der Welt.
Der Medikus lebte in einem großen Haus mit Fachwerk, Erkern und Butzenscheiben. Die Efeuranke neben der Tür wurde vom Sturm ordentlich durchgezaust, sodass dem Mädchen junge Blätter und abgebrochene Knospen entgegenflogen.
Anneke erklomm die Treppe zur Haustür und betätigte den Türklopfer, der die Form eines Löwenkopfes hatte. Schritte näherten sich wenig später und ein Riegel wurde zurückgeschoben. Als sich die Tür öffnete, strömte Anneke der durchdringende Geruch von Arznei entgegen und brachte sie beinahe zum Husten.
Der Medikus war ein dünner Mann mit ergrautem Spitzbart und schütterem Haar. Das wenige Tageslicht spiegelte sich in seiner Halbglatze. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und kniff die Augen zusammen, denn der Wind fegte ihm sogleich ins Gesicht.
»Was suchst du hier, Kind?«, fragte er, und es wirkte, als wollte der Sturm ihm diese Worte wieder zurück in die Kehle drücken. »Bei dem Wetter wirst du dir den Tod holen.«
»Meiner Mutter geht es nicht gut«, antwortete Anneke, die den Medikus von früheren Besuchen kannte. »Sie ist sehr schwach und hat Fieber.«
Der Mann öffnete die Tür so weit, dass sie eintreten konnte, dann sagte er: »Warte hier einen Moment. Ich hole nur schnell meine Tasche.«
Anneke schlüpfte durch den Türspalt. Das Zerren des Windes ließ augenblicklich nach, aber in ihrem Inneren tobte der Sturm weiter. Der Gedanke, dass ihre Mutter inzwischen sterben könnte, ließ sie erzittern.
Während der Medikus in den Tiefen seines Hauses verschwand, blickte sie sich um. Das Gebäude war nicht nur äußerlich prachtvoll, auch im Inneren konnte man sehen, dass der Hausherr ein gutes Salär erhielt. Es duftete nach teurem Holz und besonders die Schnitzereien an der Treppe, die in den ersten Stock führte, zogen Annekes Blick an. Die Ornamente, die Blüten und Blätter darstellten, waren sorgfältig gearbeitet. Zwischen ihnen blickten kleine Engelsgesichter auf den Betrachter herab und Schmetterlinge breiteten ihre hölzernen Flügel aus.
Etwas wehmütig dachte Anneke daran, dass sie zu Hause über eine wacklige Leiter auf den Dachboden klettern musste.
Wenig später kehrte der Medikus zurück. Gemeinsam traten sie hinaus in den Sturm.
»Offenbar haben sich heute sämtliche Himmelsmächte gegen uns verschworen«, brummte der Mann, während er sich bemühte, seinen Mantel zusammenzuhalten. Auch Anneke hatte jetzt noch mehr Mühe, der Sturmgewalt zu trotzen.
Nach einer Weile erreichten sie die Hütte. Das laute Klappern eines Fensterladens begrüßte sie.
Nachdem sie eingetreten waren, entzündete Anneke eine Kerze und geleitete den Medikus in die Schlafkammer der Mutter.
»Seid gegrüßt, Frau Thießen, was fehlt Euch denn?«, fragte er, während er seine Tasche auf dem Schemel neben dem Bett abstellte.
Die Frau blickte ihn matt an und deutete auf ihre Brust. In dem breiten Ehebett, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, wirkte sie ein wenig verloren. Als Kind hatte Anneke bei ihr geschlafen, doch seit sie zwölf war, besaß sie ihre eigene
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