Sturmsegel
nun verstummte das Tier. Es legte den Kopf mal nach links, dann wieder nach rechts, als hätte es die Worte verstanden. Anneke nahm den Käfig wieder herunter.
Obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, so schnell wie möglich zurückzukehren, blieb sie vor einem Stand stehen. Auf der Auslage türmten sich Stoffe in allen möglichen Farben. Bunte Bänder flatterten an seinen Pfosten.
Sie wünschte sich, ihrer Mutter solch ein Band mitnehmen zu können, damit sie es sich in ihre langen Haare flechten konnte. Vielleicht würde sie das mehr aufmuntern als das Huhn …
»Anneke!«, rief plötzlich eine Stimme, und als sie sich umwandte, erblickte sie Marte. Sie trug einen Korb mit Kohl und Pastinaken. Offenbar hatte ihre Mutter sie zum Einkaufen geschickt.
»Was willst du mit dem Huhn?«, fragte sie und deutete auf den Käfig.
»Eine Hühnerbrühe für meine Mutter kochen!«, antwortete Anneke, worauf das Tier einen klagenden Laut ausstieß, als könnte es seine Besitzerin verstehen. »Sie ist krank und der Medikus meinte, dass sie Stärkung benötige.«
»Aber sollte es dann nicht besser kopflos sein?«
Auf diese Worte stieß die Henne ein erschrockenes ›Gack‹ aus, fast so, als hätte sie Marte verstanden.
»Hühnerköpfe sind das Beste!«, behauptete Anneke, denn sie wollte nicht zugeben, dass sie sich gescheut hatte, das Tier töten zu lassen.
»Aber nicht, wenn man sie dran lässt«, entgegnete Marte. »Mein Vater hat neulich ein Huhn mit seinem Schwert geköpft. Das ging so schnell, dass es gar nicht gemerkt hat, kopflos zu sein. Es sprang auf und lief noch einige Ellen weit über den Hof. Kopflos!«
Anneke sah sie ungläubig an. »Und wie soll das gehen?«
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Marte. »Aber du kennst doch sicher auch die Geschichte vom Störtebeker.«
Ja, die kannte Anneke. Klaus Störtebeker war ein Seeräuber, der vor vielen hundert Jahren die Ostsee unsicher gemacht haben sollte. Als man ihn und seine Bande schließlich fing und hinrichten wollte, erbat er vom Gericht, alle seiner Leute freizulassen, an denen er kopflos vorübergehen konnte. Die Richter ließen sich darauf ein, glaubten sie doch nicht, dass ihm das gelingen würde. Der Henker schlug ihm den Kopf ab, und tatsächlich stand Störtebeker auf und ging an insgesamt zehn Männern vorbei, bevor man ihn mit einem Holzklotz zu Fall brachte.
Plötzlich tönte eine Stimme über die Köpfe der Umstehenden hinweg.
»Marte, wo steckst du nur?«
Anneke sah sie zwar nicht, wusste aber, dass es Martes Mutter war. Offenbar war ihre Freundin zum Korbtragen angestellt worden.
»Ich muss los«, sagte Marte bedauernd. »Treffen wir uns heute Nachmittag am Strand?«
»Ich weiß noch nicht«, seufzte Anneke schweren Herzens.
»Wenn es nicht geht, komme ich zu dir! Deine Mutter freut sich bestimmt über Besuch.«
Anneke nickte. Ihre Mutter mochte Marte. Vielleicht würde ihr Besuch sie etwas aufheitern.
»Also, wir sehen uns!«, rief Marte ihr zu und verschwand in der Menschenmenge.
Nachdem Anneke noch einen sehnsuchtsvollen Blick auf den Stand mit den bunten Bändern geworfen hatte, verließ auch sie den Marktplatz.
*
Als Anneke die Gartenpforte ihrer Hütte erreicht hatte, kam ihr die Nachbarin entgegen. Sie war eine der Frauen, mit denen ihre Mutter des Öfteren einen Schwatz hielt und die sich nicht darum kümmerte, ob es einen Mann im Haus gab oder nicht.
Magda Fehrmann war eine robuste und lebensfrohe Frau. Stets lag auf ihren Wangen ein gesundes Rot, stets waren ihre Kleider, obwohl einfach, sauber und ordentlich. Ihr braunes Haar war schon von einigen Silberfäden durchzogen, dennoch strahlten ihre grün gesprenkelten Augen wie die eines jungen Mädchens. Seit einigen Jahren war sie Witwe, dachte aber nicht daran, wieder zu heiraten. Das hatte sie mit Johanna Thießen gemein.
In diesem Augenblick verschwamm die Farbe ihrer Augen jedoch unter Tränen und ihre Wangen glühten regelrecht. Schluchzend drückte sie sich den Schürzenzipfel in die Augen und sagte: »Sei tapfer, Anneke.«
Diese Worte genügten, um Arme und Beine des Mädchens schlagartig kalt werden zu lassen. Ihr Herz begann zu flattern wie ein angstvoller Vogel und ihre Kehle schnürte sich zu, dass sie die Frage, die durch ihren Kopf schoss, nicht aussprechen konnte.
Dennoch gab Magda ihr sogleich die Antwort. »Gott hat deine Mutter zu sich geholt.«
Früher, besonders dann, wenn ihre Mutter krank war, hatte sich Anneke zuweilen ausgemalt, wie sie
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