Sturmsegel
Ein Sturm zieht auf …
April 1628
»Da hinten am Horizont! Siehst du es?«
Während der Wind ihr dunkles Haar zerzauste, fuchtelte Marte aufgeregt mit den Armen und deutete auf das Wasser, das bei diesem stürmischen Wetter einen grünlichen Grauton angenommen hatte.
Anneke kniff die Augen zusammen. Im Gegensatz zu ihrer ein Jahr älteren Freundin verfügte sie nicht über die Sehkraft eines Falken, dennoch entdeckte sie auf Anhieb das Schiff, das zwischen dem grauen Himmel und der dunklen Ostsee aufgetaucht war.
Beinahe konnte man es mit den Gischthauben verwechseln, die die hohen Wellenberge krönten. Doch bei näherem Hinsehen erkannte man, dass es Segeltuch war, das sich im Wind blähte.
»Es wird ein Handelsfahrer sein«, schrie Anneke gegen das Tosen des Meeres an und strich sich ihre blonden Locken aus dem Gesicht. Die salzige Brise zerrte heftig an ihrem blauen Rock und ihrer weißen Bluse und ließ die Bänder ihres Mieders wild umherflattern.
Eigentlich hatte ihre Mutter verboten, dass sie sich mit Marte am Strand herumtrieb. Sie hatte Angst, dass ihre Tochter von der Brandung in die Meerestiefen gerissen würde. Doch das Meer war bei Weitem nicht die größte Gefahr hier draußen. Marodierende Soldaten und Wegelagerer trieben sich in der Gegend herum, auch am Strand, in der Hoffnung, wertvolle Gegenstände aus versunkenen Schiffen zu finden. Zwei hübsche Mädchen würden in großer Gefahr schweben, wenn sie ihnen begegneten.
Doch daran dachten Marte und Anneke hier draußen nicht. Das Meer war für sie wie eine gute Freundin. Noch nie war ihnen am Strand etwas zugestoßen. Die Möwen, die über ihren Köpfen kreisten, bewachten sie und die rauschenden Wogen spielten ihnen zu Ehren auf. Hier konnten sie für einen kurzen Moment vergessen, dass der Krieg das Land verheerte.
Bereits seit ganzen zehn Jahren zogen die Heere der kaiserlichen Allianz gegen die protestantischen Feldherren. Geschichten vom ›Prager Fenstersturz‹ anno 1618 waren auch bis an die Ostseeküste gedrungen. Anneke und Marte hatten sie als kleine Kinder gehört.
Zunächst tobten die Kämpfe nur im Süden Deutschlands, doch der Krieg war wie ein Lindwurm, der sich in seinem Hunger nach Blut ständig voranfraß. Auch das mecklenburgische Herzogtum, die Heimat der Mädchen, blieb nicht von ihm verschont.
Es war noch nicht allzu lange her, dass Peter Blomes und Johann Jusquinus von Gosens den Dänholm von kaiserlichen Besatzern geräumt hatten, was gewiss nicht ohne Folgen bleiben würde. Gerüchte, die wie trockenes Laub durch die Straßen wirbelten, besagten, dass Wallensteins Heer nun auf Stralsund zu marschieren würde.
Aus diesem Grund war man seit Wochen dabei, die Stadtmauer zu verstärken und davor einen Wall aus angespitzten Holzpfählen zu errichten. Schlimme Geschichten über das Schicksal Neubrandenburgs trieben die Handwerker an. Tilly, der große Feldherr des Kaisers, hatte dort wie der Höllenfürst persönlich gewütet.
Die Befestigungen hier mussten halten, wenn es Stralsund und seinen Bewohnern nicht ebenso ergehen sollte.
Immerhin konnten die Kaiserlichen vom Meer her nicht kommen. Die Ostsee beherrschten die Könige des Nordens, Christian IV. von Dänemark und Gustav Adolph von Schweden. Die beiden sollten sich oft uneins sein, hatte Anneke gehört, doch wenn es hieß, gegen die Kaiserlichen zu ziehen, vergaßen die Herrscher ihren Streit.
Außerdem hatte sich der Schwedenkönig bereits einen Ruf in den deutschen wie baltischen Ländern gemacht. Man nannte ihn den ›Leu aus Mitternacht‹, also den ›Löwen aus dem Norden‹. Mit diesem Namen verbanden die Menschen die Hoffnung, dass er diesen unseligen Krieg endlich beenden würde.
»Was glaubst du, segelt das Schiff unter schwedischer oder dänischer Flagge?«, fragte Marte und trat näher an ihre Freundin heran. So mussten sie nicht mehr schreien, um einander zu verstehen.
»Vielleicht kommt es aus Russland«, entgegnete Anneke, worauf Marte entschlossen den Kopf schüttelte.
»Nein, das ganz sicher nicht. Oder hast du in letzter Zeit russische Schiffe in Stralsund anlegen sehen?«
Diese Frage konnte Anneke nur verneinen, also fuhr Marte fort. »Also ich glaube, es kommt aus Schweden. Vielleicht sind es ja auch wieder Soldaten?«
Vor Kurzem war eine Kompanie an Land gegangen, die dem Schwedenkönig als Verstärkung dienen sollte.
»Vielleicht ist es der Dänenkönig«, entgegnete Anneke. Sein Bild hatte sie einmal in der Marktbude eines
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