Süden und das heimliche Leben
vermutlich betrunken war. An der Kreuzung, an der die Fraunbergstraße abzweigte, blieb Ilka ruckartig stehen.
»Was wollen Sie noch von mir? Soll ich was unterschreiben, dass ich wieder da bin und gesund und munter?«
»Sie können doch nicht schreiben«, sagte Süden.
»Das ist gemein.«
»Wo ist Bertold Zeisig?«
»Wer ist das?«
Die Lüge war geschenkt. »Sie haben ihn in Ihre Wohnung geschickt, damit er Ihr Handy holt, das Sie vergessen hatten.«
»Sie wissen ganz schön Bescheid.«
Süden schwieg.
»Ich hab mein Handy nicht vergessen.«
»Wo ist der Mann?«
»Wenn ich’s Ihnen sag, lassen Sie mich dann in Ruh?«
»Das weiß ich nicht.«
»Er ist verreist.«
»Wohin?«
»Ins Ausland«, sagte Ilka. »Er hat eine Show, er ist Zauberer.«
»Ist er nach Österreich gefahren?«
»Wieso nach Österreich?«
»Ich muss mit ihm reden«, sagte Süden. »Er hat hier in der Straße eine Wohnung.«
»Sie täuschen sich, er wohnt hier nicht. Ich hab mich hier versteckt, bei einer Freundin, die ich aber nicht verpetz. Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich die Straße kenn?«
»Ich habe mich erkundigt.«
»Bei wem denn?«
»Bei dem Taxifahrer, mit dem Sie das Grab Ihrer Mimi besucht haben.«
Ein stilles kurzes Lächeln erschien auf ihrem bleichen Gesicht.
Süden schwieg.
Ein blauer Linienbus bog um die Ecke und hielt an. Leute stiegen aus und ein, die meisten hatten einen Regenschirm dabei.
Nach einer Weile sagte Ilka Senner: »Das ist ein schöner Gedanke, dass auch die Tiere nicht lesen und schreiben können und trotzdem eine Existenzberechtigung haben. Bloß ich hab keine.«
»Natürlich«, sagte Süden. »Sie auch, wie ich, wie Ihre Stammgäste.«
»Ich hab keine Existenzberechtigung.« Ilka griff nach Südens Hand, kratzte mit ihren Fingern an der Innenseite und umklammerte seine Hand. »Ich hab nämlich jemanden umgebracht, so schaut’s aus, Herr Süden. Ich bin genauso ein Einbrecher und Verbrecher wie Sie.«
»Ich bin so wenig ein Einbrecher und Verbrecher wie Sie.«
»Doch, Sie sind in mein Leben eingebrochen und haben ein Verbrechen an meiner Zukunft begangen. Und das ist nicht gerecht.«
»Wen haben Sie umgebracht, Frau Senner?«
»Einen Verbrecher auch.«
[home]
15
E in graues, unverputztes, an einigen Stellen von Efeu bewachsenes Haus mit einem welligen Ziegeldach und drei Gaubenfenstern. Schwere gelbe Vorhänge an den Fenstern zur Straße. Trotz der Blumen und Pflanzen und des gepflegten Hofs hinter dem Gartenzaun wirkte das Gebäude unbewohnt und abweisend.
Eigentümer war ein Mann namens Kai Bose, den Zeisig vor zwei Jahren bei einem seiner Auftritte in einer Münchner Baufirma kennengelernt hatte. Bose erzählte von seinem Haus in Thalkirchen, das praktisch das ganze Jahr über leer stehe, weil er nach seiner Scheidung in eine neugebaute Eigentumswohnung in Ismaning gezogen war. Das Haus in Thalkirchen hatte er vor fünfundzwanzig Jahren preiswert erworben und eine Zeitlang mit seiner Frau bewohnt, die ihn schließlich verlassen hatte. Eigentlich hätte er das Anwesen längst verkaufen müssen, aber er hatte einen Schwager, einen Handelsvertreter, der gelegentlich nach München kam und dann für ein paar Tage dort übernachtete. Zeisig bot sich als Dauermieter an, und Bose war einverstanden. Die Miete war niedrig, Zeisig überwies das Geld zuverlässig, meldete aber nie einen Zweitwohnsitz in München an. So konnte er mit seinen Einnahmen jonglieren und sein kleines Apartment in Salzburg behalten.
Vier Tage nach seiner Einlieferung ins Klinikum Großhadern starb er an Herzversagen.
»Wie mein Vater«, sagte Ilka Senner zu Süden, der sie in der Untersuchungshaft besuchte.
Nachdem sie ihm das graue Haus gezeigt hatte, war er bei ihr geblieben, bis Hauptkommissarin Birgit Hesse sie als Verdächtige abführte. Am nächsten Tag hatte er sie im Kommissariat besucht, was ihm als ehemaligen Kollegen ausnahmsweise gestattet worden war. Birgit Hesse verfolgte die Begegnung über einen Monitor aus dem Nebenraum. Ilka Senner sprach wenig und erklärte, es gehe ihr gut, nachdem sie eine warme Mahlzeit zu sich genommen habe.
Über ihr Tatmotiv machte sie gegenüber der Kripo keine konkreten Aussagen. Sie gab aber zu, auf Bertold Zeisig eingestochen zu haben.
Obwohl sie sich damit hätte entlasten können, räumte sie erst auf mehrmaliges Nachfragen ein, dass sie sich um den Verletzten gekümmert und die Wunde verbunden habe. Auf die Frage, wieso sie, wenn sie schon derart
Weitere Kostenlose Bücher