Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
frühreif wie diese, sondern im Grunde noch ein frisch
geschlüpftes Küken. Sie sei geschützt vor allem Bösen aufgewachsen, wäre niemals freiwillig gegangen. Außerdem wisse sie ja nicht mal, wie man eine Fahrkarte kauft.
Sie hätten ihre Tochter nicht dem öffentlichen Straßenverkehr anvertrauen können, sondern sie zuverlässig zu allen Terminen gefahren und wieder abgeholt.
»Ah so.«
»Man hört ja so einiges, welche Schlägereien in Bus und Bahn drohen, welche Kontakte sich dort anbahnen können, dazu die Viren und Bakterien der Leute. Wir wollten sie davor
bewahren.«
»Bewahren?«, fragte die Beamtin. »Fremde Bakterien härten ja ab. Nicht wahr?«
Die Eltern hörten das nicht zum ersten Mal, auch andere hatten ihre übervorsichtigen Maßnahmen häufig angesprochen, eine Lehrerin, der Kindergarten bereits.
»Hatten Sie vielleicht kurz vor dem Verschwinden mit ihr Streit?«
Die Mutter schluchzte: »Wir sind doch Freundinnen, ich habe ihr am Abend noch vorgelesen.«
»Einer Sechzehnjährigen?«
»Ich lese auch meinem Mann vor, täglich.«
Der Beamtin gefielen diese Leute nicht, sie bekam schon Atemnot vom Zuhören: »Eine Durchforstung von Paulas Computer wird uns weiterhelfen.«
Da schaltete sich wieder der Vater ein: »Sie darf an meinen Rechner, allerdings nur zu schulischen Zwecken.«
»Kein eigener Computer, in dem Alter? Dann brauche ich unbedingt die Namen der Freunde und Freundinnen Ihrer Tochter, mit Adressen und Telefonnummern.«
Die Mutter schüttelte den Kopf: »Paulas Terminplan hat solche Freizeitkontakte kaum gestattet.«
Dieser Satz ließ die Kommissarin erschauern.
Paula fehlte es an nichts. Außer an Freiheit, dachte sie. Aus ihrer Sicht hatte das Mädchen gute Gründe fortzulaufen.
»Aber wenn was passiert?«, schluchzte die Mutter. »Das werde ich mir nie verzeihen.«
»Sie können keinen Menschen vollständig schützen«, versuchte die Ermittlerin zu trösten.
»Doch!«, beteuerte der Vater. »Es gibt viele Möglichkeiten.«
Er nutzte zum Schutz der Familie technische Hilfsmittel, die hierzulande unbekannt waren, er hatte ein Faible dafür und war immer der Erste, der sie ausprobierte. Es gab zum Beispiel keine
Spinnen in diesem Haus, kein einziger Schädling schlüpfte hinein, nicht mal eine Ameise krabbelte bei diesen Leuten in der Küche herum. Das Geheimnis war ein invisible fence , den der Vater aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte, einen halben Meter unter der Erde ums gesamte Grundstück vertrieben Ultraschall und
elektromagnetische Wellen solch ungebetene Gäste. Haustiere hätten sich davon vielleicht irritiert gezeigt, aber man hielt ja keine, den Menschen dagegen schadete die Vorrichtung nicht,
versicherte der Hersteller.
Die Eltern achteten zudem peinlich genau auf die Unversehrtheit ihres Kindes, Familienfotos von der kleinen Paula hätte man im Schaukasten einer Bibelschule ausstellen können.
Die Grenzen seien fließend, meinte die Mutter, von hanebüchenen Fällen aus der Zeitung gewarnt.
»Grenzen zwischen was?«, fragte die Beamtin.
»Man kann ja das Kind nicht mal mehr in die Kirche lassen, ohne sich sorgen zu müssen.«
Der Polizistin kam ein Gedanke, vielleicht eine Erklärung: »Ist denn schon mal was passiert mit Paula – was Schlimmes?«
Die Mutter schüttelte den Kopf, doch ihre Gesichtszüge verhärteten sich erschreckend, sie erkaltete regelrecht: »Ihr nicht.«
»Wem denn, Ihnen?«
Die Mutter schüttelte weiter den Kopf, schwieg aber beharrlich.
Zuletzt hatten sie der Heranwachsenden eine Minisonde unter die Haut gesetzt, nicht größer als ein Fingernagel, ein digitaler Aufpasser, zumindest in den Staaten war dieser Chip
erfolgreich beim Menschen getestet worden. Zuvor hatte er sich bei teuren Rassehunden oder Rennpferden bewährt, deren Entführungen man befürchten musste.
Die Dresdner Polizistin konnte nicht glauben, was sie da erfuhr: »Unter die Haut?«
»Ein kleiner Piks zu ihrem eigenen Wohl, mehr nicht. Mithilfe des Senders kann man Paula orten.«
»Ja, und weshalb suchen wir sie dann überhaupt?«
Das Implantat lag blutverschmiert auf dem Nachttisch. Um diesen standen nun die drei herum und betrachteten den Chip.
»Nie und nimmer hat Paula den selbst entfernt«, war sich die Mutter sicher, »sie ist viel zu empfindlich, ja wehleidig geradezu.«
»Vielleicht hat Ihre Überwachung noch mehr geschmerzt?«, gab die Polizistin zu bedenken.
Das war der Moment, in dem die Eltern ihren Umzug nach Dresden
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