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Super Sad True Love Story

Super Sad True Love Story

Titel: Super Sad True Love Story Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Shteyngart
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Freundschaften mehr am Arbeitsplatz geschlossen. Es ist nicht leicht, sich mit Zweiundzwanzigjährigen anzufreunden, die über ihre Nüchternblutzuckerwerte jammern oder einen GroupTeen mit ihrem Adrenalinindex und einem Smiley dahinter herumschicken. Wenn auf der Toilettenwand der Spruch «Lenny Abramovs Insulinwerte sind Schrott» steht, lässt sich eine gewisse Boshaftigkeit nicht leugnen, die ihrerseits den stressabhängigen Cortisolspiegel erhöht und den Zelltod beschleunigt.
    Aber als ich durch den Eingang trat, erwartete ich immerhin,
irgendjemanden
zu erkennen. Das vergoldete Hauptheiligtum der Synagoge war voller junger Männer und Frauen, die sich mit wütender postakademischer Achtlosigkeit gekleidet hatten, doch sie alle sandten von irgendwoher zwischen ihren Augen die Botschaft aus, dass sie den erwähnten Whitney-Houston-Song verkörperten, dass sie, die Kinder,
de facto
die Zukunft waren. Die Abteilung PosthumaneDienstleistungen beschäftigte genug Menschen, um die ursprünglichen zwölf Stämme Israels wiederzubeleben, die man, wie praktisch, auf den Buntglasfenstern des Heiligtums abgebildet hatte. Doch wie stumpf sahen wir in dem meeresblauen Leuchten aus.
    Der Schrein, in dem normalerweise die Tora-Rollen aufbewahrt werden, war entfernt worden, und an seiner Stelle hingen fünf riesige Fallblatt-Anzeigetafeln der Firma Solari, die Joshie aus verschiedenen italienischen Bahnhöfen gerettet hatte. Doch statt der
arrivi
und
partenze
der Züge, die am Bahnhof von Florenz oder Mailand ankommen und abfahren, standen auf den Tafeln die Namen der Angestellten neben den neusten medizinischen Messwerten, Methylierung und Homocystein, Testosteron und Östrogen, Nüchterninsulin und Triglyzeride und, am allerwichtigsten, den «Stimmungs- + Stressindikatoren», die eigentlich immer «positiv/​kreativ/​bringt sich ein» lauteten, aber bei ausreichender Datenfütterung durch konkurrierende Kollegen auch zu «echt launische Zicke heute» oder «diesen Monat ohne Teamgeist» umspringen konnten. An diesem Tag nun flappten die schwarzweißen Fallblätter mit den wechselnden Ziffern und Buchstaben wie verrückt hin und her – ein surrendes Ticker-ticker-ticker-ticker – und bildeten neue Wörter und Zahlen: Der unglückselige Aiden M. wurde von «verkraftet Verlust eines geliebten Menschen» über «lässt berufliche Leistung von Privatleben schmälern» zu «bringt sich nicht ein» herabgestuft. Verstörend auch, dass neben den Namen vieler meiner ehemaligen Kollegen, darunter auch der meines russischen Landsmanns, des brillanten, manisch-depressiven Vasily Greenbaum, die gefürchtete Zeile ZUG FÄLLT AUS stand.
    Was mich anging: Ich war nicht einmal aufgeführt.
    Ich baute mich in der Mitte des Heiligtums auf, direktunter den Anzeigetafeln, und versuchte mich ins leise Gebrabbel um mich herum einzufügen. «Hi», sagte ich. Und breitete die Arme aus: «Lenny Abramov!» Doch die neue schallgedämpfte Holzvertäfelung schluckte meine Worte, während junge Menschen in verschiedenen Gruppierungen, manche Arm in Arm wie bei einer zwanglosen Verabredung, durch den Raum eilten, auf dem Weg zur Sojaküche oder zur
Eternity Lounge
, und mich Satzfetzen wie «Weiche Strategie» und «Schadensreduzierung», «ROFLAARP», «PPKM», «IGIMGK» und «Rubenstein arschficken» hören ließen, schließlich, von weiblichem Lachen begleitet, auch «Rhesusäffchen». Mein Spitzname! Jemand hatte sich meiner besonderen Beziehung zu Joshie und der Tatsache erinnert, dass ich hier mal wichtig war.
    Es war Kelly Nardl. Kelly Nardl, mein Schatz. Eine geschmeidige, kompakte Frau meines Alters, der ich unrettbar verfallen würde, wenn ich es nur ertragen könnte, mein Leben in unmittelbarer Nähe ihres nicht deodorierten, animalischen Geruches zu verbringen. Sie begrüßte mich mit einem Kuss auf beide Wangen, als wäre sie und nicht ich gerade aus Europa zurück, und zog mich an der Hand zu ihrem leuchtend weißen, keilförmigen Schreibtisch in dem Raum, der einmal das Büro des Kantors gewesen war. «Ich mache dir einen Teller Kreuzblütler-Gemüse, Liebling», sagte sie, und allein dieser Satz halbierte meine Angst. Man wird bei den Posthumanen Dienstleistungen nicht erst mit Kohl gefüttert und dann gefeuert. Gemüse ist ein Zeichen von Respekt. Andererseits war Kelly eine Ausnahme unter all den Hartgesottenen hier: in Louisiana zu Freundlichkeit und Lebensart erzogen, eine jüngere, weniger hysterische Ausgabe von Nettie Fine

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