Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
Noch bevor sie das erste Ziehen in ihrem Bauch verspürte, brach die Wölfin auf, um eine abgelegene Wurfhöhle zu suchen. Sie wusste instinktiv, dass diese Geburt nicht wie die vorigen sein würde. Seit Tagen irrte sie nun schon umher und sie fühlte, dass ihre Zeit bald gekommen war. Bis jetzt hatte sie nichts gefunden, was ihr als Bau dienen konnte. Nur ein paar flache Gruben, die aber nicht geeignet waren, denn sie boten keinen Schutz. Obwohl es schon fast Frühling war, konnte das Wetter blitzartig umschlagen und die Welpen würden erfrieren. Das Geräusch ihrer jungen, wild schlagenden Herzen würde unter einer dünnen Eisschicht verebben, bis der Herzschlag schließlich ganz aussetzte und nur noch Stille herrschte. Die Wölfin hatte das schon einmal erlebt. Sie hatte ihre Jungen damals so lange geleckt, bis ihre Zunge ganz ausgetrocknet und blutig gewesen war, aber gegen das Eis hatte sie nichts tun können. Das hier war ihr dritter Wurf. Und diesmal, das wusste sie, musste sie ihre Jungen weit weg vom Rudel zur Welt bringen. Fern von ihrem Clan, ihrem Gefährten und vor allem von der Obea.
Dann endlich, in der Nacht des fünften aufgehenden Mondes, der jetzt wie eine Eissichel tief am Horizont hing, fand sie einen Spalt unter einem Felssims. Sie roch ihn, noch bevor sie ihn sah. Der Fuchsgeruch war durchdringend. Hoffentlich war es keine Wurfhöhle. Nur ein Fuchs, lieber Lupus!, flehte sie im Stillen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Bloß keine Jungen, mit denen sie sich anlegen musste.
Und sie hatte Glück – es war tatsächlich nur ein Fuchs. Eine Füchsin, die bald werfen würde. Die Wölfin verjagte sie, nahm den Bau in Besitz und richtete sich für die Geburt darin ein. Nur der Fuchsgeruch hing immer noch in der Luft. Gut , dachte sie. Durch den Tarnduft war die Höhle zusätzlich gesichert. Sie wälzte sich in dem Kot, den sie in der Nähe fand, und schnaubte bei dem Gedanken, was die Kleinen von ihr denken würden. Aber egal – Hauptsache, sie blieben am Leben. Notfalls auch ohne den Clan.
Und dann war es soweit. Drei Junge brachte sie zur Welt. Zwei lohfarbene wie ihr Vater, das dritte silbergrau. In den Augen der Wölfin waren alle drei vollkommen. Es dauerte eine Weile, bis sie den kleinen Makel an dem silbergrauen Jungen entdeckte – eine leichte Spreizung der Vorderpfote. Als sie die Pfote genauer untersuchte, entdeckte sie unten am Fußpolster eine schwache Spiralzeichnung, die wie ein wirbelnder Stern aussah. Das war seltsam, aber sicherlich keine Missbildung.
Es ist auch nur eine geringfügige Spreizung, tröstete sie sich. Das Kleine war also kein Malcadh , wie das alte Wolfswort für „ein Verfluchter“ lautete. Es war nur ein winziger Makel, der sich in den nächsten Tagen hoffentlich verwachsen würde. Die abstehenden Zehen würden sich vielleicht wieder anlegen und die Zeichnung am Fußpolster war so wenig ausgeprägt, dass sie keine Spur hinterlassen würde. Das silbergraue Junge war stark. Gierig saugte es an ihrer Zitze. Trotzdem war es gut, dass sie diese abgelegene Wurfhöhle gefunden hatte.
Behutsam schleifte sie ein Junges nach dem anderen tiefer in den Bau hinein, der zum Glück mehrere Gänge hatte, die in eine Nisthöhle mündeten. Hier konnte sie die nächsten Tage bleiben, sich mit ihren Jungen einrollen und sie im stillen Dunkel der Höhle säugen, solange es ging. Nur zu bald würden die Kleinen unruhig werden. Wenn ihre Augen endlich aufgingen, würden sie den blassen Lichtschein suchen, der von fern durch die Öffnung des Baus hereinsickerte. Das Licht würde sie genauso magisch anziehen wie die Milch in ihren Zitzen, oder später der Geruch von Fleisch. Aber wenn sie sich versteckt hielten, würden sie überleben. Das silbergraue Junge würde immer stärker werden, bis die drohende Gefahr durch die Obea allmählich verblasste wie eine alte Duftspur, die von Wind, Regen und Schnee weggewaschen wurde.
Der Wölfin blieben nur wenige Stunden für ihre schönen Zukunftsträume.
In einer Welt, die jedem anderen Wolf unberührt erschienen wäre, hatte Shibaan, die Obea des Clans der MacDuncan, die Spur der Wölfin entdeckt. Als Obea war sie dafür zuständig, missgebildete Jungtiere aus der Wurfhöhle fortzutragen. Nur unfruchtbare Wölfinnen, die keine Mutterinstinkte entwickelten, wurden für diese Arbeit ausgewählt. Da eine Obea ohne eigene Nachkommen war, hatte sie einzig das Wohl des Clans im Blick, der nicht gesund und stark bleiben konnte, wenn
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