Tagebücher: 1909-1923
schreibe und an die guten, mit ununtergebrochenem Gefühl geschriebenen Pariser Erinnerungen Löwys denken muß, die aus selbständigem Feuer kommen, während ich wenigstens jetzt sicher hauptsächlich deshalb, weil ich so wenig Zeit habe, fast ganz unter Maxens Einfluß stehe, was mir manchmal zum Überfluß auch noch die Freude an seinen Arbeiten verdirbt. Weil es mich tröstet, schreibe ich mir eine autobiographische Bemerkung von Shaw her, trotzdem sie eigentlich das Gegenteil von Trost enthält: Als Knabe war er Lehrling im Contor eines Grund- u. Bodenagenten in Dublin. Er gab diesen Posten bald auf und reiste nach London und wurde Schriftsteller. In den ersten 9 Jahren von 1876 – 1885 verdiente er im ganzen 140 K. “Aber trotzdem ich ein starker junger Mensch war und meine Familie sich in üblen Umständen befand, warf ich mich nicht in den Kampf des Lebens; ich warf meine Mutter hinein und ließ mich von ihr erhalten. Ich war meinem alten Vater keine Stütze, im Gegenteil, ich hieng mich an seine Rockschöße. ” Schließlich tröstet es mich wenig. Die Jahre, die er frei in London verbracht hat, sind für mich schon vorüber, das mögliche Glück geht immer mehr ins unmögliche ber, ich führe ein schreckliches ersatzweises Leben und bin feig und elend genug, Shaw nur soweit zu folgen, daß ich die Stelle meinen Eltern vorgelesen habe. Wie mir dieses mögliche Leben mit Stahlfarben, mit gespannten Stahlstangen und luftigem Dunkel dazwischen vor den offenen Augen blitzt!
27. X 11 Löwys Erzählungen und Tagebücher:
wie ihn Notre Dame erschreckt, wie ihn der Tiger im Jardin de Plantes ergreift, als eine Darstellung des Verzweifelten und Hoffenden, der Verzweiflung und Hoffnung im Fraße sättigt, wie ihn sein frommer Vater in der Vorstellung befragt, ob er nun Samstag spazieren könne, ob er jetzt moderne Bücher zu lesen Zeit habe, ob er an den Fasttagen essen dürfe, während er doch Samstag arbeiten muß, überhaupt keine Zeit hat und mehr fastet als je eine Religion vorgeschrieben hat. Wenn er an seinem Schwarzbrot kauend durch die Gassen spaziert, sieht es von der Ferne aus, als esse er Chokolade. Die Arbeit in der Mützenfabrik und sein Freund, der Socialist, der jeden für einen Bourgeois hält, der nicht genau so arbeitet wie er, z. B. Löwy mit seinen feinen Händen, der sich Sonntags langweilt, der das Lesen als etwas Üppiges verachtet, selbst nicht lesen kann und Löwy mit Ironie bittet ihm einen Brief vorzulesen, den er bekommen hat.
Das jüdische Reinigungswasser, das in Rußland jede jüdische Gemeinde hat, das ich mir als eine Kabine denke mit einem Wasserbecken von genau bestimmten Umrissen, mit vom Rabbiner angeordneten und überwachten Einrichtungen, das nur den irdischen Schmutz der Seele abzuwaschen hat, dessen äußerliche Beschaffenheit daher gleichgültig ist, das ein Symbol daher schmutzig und stinkend sein kann und auch ist aber seinen Zweck doch erfüllt. Die Frau kommt her um sich von der Periode zu reinigen, der Thoraschreiber um sich vor dem Aufschreiben des letzten Satzes eines Toraabschnittes von allen sündigen Gedanken zu reinigen.
Sitte gleich nach dem Erwachen, die Finger dreimal in Wasser zu tauchen, da die bösen Geister sich in der Nacht auf dem zweiten und dritten Fingerglied niederlassen. Rationalistische Erklärung: Es soll verhindert werden, daß die Finger gleich ins Gesicht fahren, da sie doch im Schlaf und Traum unbeherrscht alle möglichen Körperstellen die Achselhöhlen, den Popo, die Geschlechtsteile berührt haben können.
Die Garderobe hinter ihrer Bühne ist so schmal, daß wenn einer zufällig hinter dem Türvorhang der Scene vor dem Spiegel steht und ein zweiter an ihm vorbeikommen will, er jenen Vorhang heben und sich wider Willen einen Augenblick lang dem Publikum zeigen muß.
Aberglaube: Trinkt man aus einem unvollkommenen Glas, bekommen die bösen Geister Eingang in den Menschen.
Wie wund mir die Schauspieler nach der Vorstellung vorkamen, wie ich mich fürchtete, sie mit einem Wort zu betupfen. Wie ich lieber nach einem flüchtigen Händedruck rasch weggieng, als wäre ich böse und unzufrieden weil die Wahrheit meines Eindrucks auszusprechen so unmöglich war. Alle schienen mir falsch außer Max der ruhig einiges Inhaltslose sagte. Falsch aber war der, welcher sich nach einem unverschämten Detail erkundigte, falsch der, welcher eine scherzhafte Antwort auf eine Bemerkung des Schauspielers gab, falsch der Ironische,
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