Tagebücher: 1909-1923
mir sie so vollständig auf, daß nur ein kaum zu erkennender kastanienähnlicher Kern übrig blieb. Später war die Rede davon, daß dieser Esel noch nie auf vieren gegangen sei, sondern sich immer menschlich aufrecht halte und seine silbrig glänzende Brust und das Bäuchlein zeige. Das war aber eigentlich nicht richtig.
Außerdem träumte ich von einem Engländer, den ich in einer Versammlung, ähnlich jener der Heilsarmee in Zürich kennen lernte. Es waren dort Sitze wie in der Schule, unter der Schreibplatte war nämlich noch ein offenes Fach; als ich einmal hineingriff um etwas zu ordnen, wunderte ich mich, wie leicht man auf der Reise Freundschaften schließt. Damit war offenbar der Engländer gemeint, der kurz darauf zu mir trat. Er hatte helle lose Kleider, die in sehr gutem Zustand waren, nur hinten an den Oberarmen war statt des Kleiderstoffes oder wenigstens über ihm festgenäht, ein grauer, faltiger, ein wenig hängender, streifig zerrissener, wie von Spinnen punktierter Stoff, der sowohl an die Ledereinlagen in Reithosen als auch an den Ärmelschutz der Nätherinnen, Ladenmädchen, Comptoiristinnen erinnerte. Sein Gesicht war gleichfalls mit einem grauen Stoff bedeckt, der sehr geschickte Ausschnitte für Mund, Augen, wahrscheinlich auch für die Nase hatte. Dieser Stoff war aber neu, gerauht eher flanellartig, sehr schmiegsam und weich, von ausgezeichnetem englischen Fabrikat. Mir gefiel das alles so, daß ich begierig war, mit dem Mann bekannt zu werden. Er wollte mich auch in seine Wohnung einladen; da ich aber schon übermorgen wegfahren mußte, zerschlug sich das. Ehe er die Versammlung verließ, zog er sich noch einige offenbar sehr praktische Kleidungsstücke an, die ihn nachdem er sie zugeknöpft hatte ganz unauffallend machten. Trotzdem er mich nicht zu sich einladen konnte, forderte er mich doch auf mit ihm auf die Gasse zu gehn. Ich folgte ihm, wir blieben gegenüber dem Versammlungslokal an einer Trottoirkante stehn, ich unten, er oben, und fanden wiederum nach einigem Gespräch, daß aus der Einladung nichts werden konnte.
Dann träumte ich, daß Max Otto und ich die Gewohnheit hatten, unsere Koffer erst auf dem Bahnhof zu packen. Da trugen wir z. B. die Hemden durch die Haupthalle zu unsern entfernten Koffern. Trotzdem dies allgemeine Sitte zu sein schien, bewährte es sich bei uns nicht, besonders deshalb weil wir erst knapp vor dem Einfahren des Zuges zu packen anfiengen. Dann waren wir natürlich aufgeregt und hatten kaum Hoffnung noch den Zug zu erreichen, wie erst gute Plätze zu bekommen.
Trotzdem die Stammgäste und Angestellten des Kaffeehauses die Schauspieler lieben, können sie sich doch den Respekt zwischen den niederwerfenden Eindrücken nicht bewahren, und verachten die Schauspieler als Hungerleider, Herumfahrende, Mitjuden ganz wie in historischen Zeiten. So wollte der Oberkellner den Löwy aus dem Saal werfen, der Türöffner ein früherer Bordellangestellter und gegenwärtiger Zuhälter schrie die kleine Tschissik nieder, als diese in der Aufregung ihres Mitgefühls “beim wilden Menschen” irgendetwas den Schauspielern gereicht haben wollte und als ich vorgestern Löwy zum Kaffeehaus zurückbegleitete, nachdem er mir im Kaffee City den ersten Akt von “Elieser ben Schevia” von Gordon vorgelesen hatte, rief ihm jener Kerl zu (er schielt und hat zwischen der gekrümmten spitzigen Nase und dem Mund eine Vertiefung, aus welcher heraus ein kleiner Schnurrbart sich sträubt): “Komm schon, Idiot. (Anspielung auf die Rolle im wilden Menschen) Man wartet. Ein Besuch ist heute da wie Du ihn wirklich nicht verdienst. Sogar ein Freiwilliger von der Artillerie ist da, schau hier.” Und er zeigt auf eine der verhängten Kaffeehausscheiben, hinter der jener Freiwillige angeblich sitzen soll. Löwy fährt sich mit der Hand über die Stirn: “Von Elieser ben Schevia zu diesem. “
Der Anblick von Stiegen ergreift mich heute so. Schon früh und mehrere Male seitdem freute ich mich an dem von meinem Fenster aus sichtbaren dreieckigen Ausschnitt des steinernen Geländers jener Treppe die rechts von der Cechbrücke zum Quaiplateau hinunter führt. Sehr geneigt, als gebe sie nur eine rasche Andeutung. Und jetzt sehe ich drüben über dem Fluß eine Leitertreppe auf der Böschung die zum Wasser führt. Sie war seit jeher dort, ist aber nur im Herbst und Winter durch Wegnahme, der sonst vor ihr liegenden Schwimmschule enthüllt und liegt dort im dunklen Gras unter den
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