Tal der Traeume
Outback, was in Sibells Augen umso mehr dafür sprach, sich hier zu behaupten und zu beweisen, dass ihr isoliertes Leben keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen sei. Sibell empfand übertriebenen Stolz auf ihre hausfraulichen Fähigkeiten. Das Wohnhaus von Black Wattle war kein Herrensitz, sondern ein weiträumiges Holzgebäude mit hohen Decken, breiten Veranden und einem rot gestrichenen Eisendach, das meilenweit zu sehen war, doch es wirkte gemütlich und war gut ausgestattet. Mit Hilfe ihres chinesischen Kochs und der schwarzen Hausmädchen bewirtete Sibell ihre wenigen Besucher gern im großen Stil. Lucy war das recht, doch sie konnte nicht akzeptieren, dass es ausgerechnet ihre Aufgabe sein sollte, durchs Haus zu schweben und die Pflichten und gesellschaftlichen Fähigkeiten zu erlernen, die einer jungen Dame zukamen. Sie hasste das Nähen, konnte weder malen noch Klavier spielen und las lieber romantische Romane als die »besseren« Bücher, die ihre Mutter in die Regale stellte. Aber sie liebte die Station, das Leben hier draußen gefiel ihr. Lucy war hoch gewachsen, mit langem, blondem Haar, ebenmäßigen Zügen und einem schlanken, athletischen Körper. Die Leute nannten sie gut aussehend, obgleich Lucy selbst ihre Zweifel daran hatte. Sie war nicht hübsch wie die Heldinnen in den Groschenromanen, hatte keine Locken und so weiter. Zack behauptete immer, sie sei schön, aber das war kein Wunder: Ihr Vater vergötterte sie, er war stolz auf sie, weil sie gut reiten konnte, ob nun im Damen- oder Herrensattel, und bei den alljährlichen Rennen und Sportfesten Pokale gewonnen hatte… Aber wo blieb er jetzt, ihr geliebter Vater? Hatte er sie vergessen? Jedes Jahr um diese Zeit zogen sie nach Darwin und verbrachten den Sommer in ihrem Strandhaus. Zwar konnte man den Wolkenbrüchen und der allgegenwärtigen Feuchtigkeit nicht entrinnen, doch in der angenehmen Atmosphäre der Vorweihnachtszeit und bei den jährlichen Treffen mit den alten Freunden von den anderen Stationen im Outback war alles leichter zu ertragen. Es war eine wunderbare Zeit für alle: eine wohlverdiente Ruhepause für hart arbeitende Männer, die sich mit ihren Freunden entspannen und so tun konnten, als sei es eine schwere Bürde, die Frauen zu all den Partys und Bällen zu begleiten, die schon im Voraus verabredet worden waren. Und für die Frauen war es eine Gelegenheit, endlich einmal wieder den Trubel und Spaß weiblicher Gesellschaft zu genießen, und was die jüngere Generation betraf… Lucy lächelte ein wenig selbstgefällig. Die Sommermonate in Darwin waren als Zeit der »Brautwerbung« bekannt. Romantik und Liebe lagen in der Luft. »Und Lust«, fügte Tante Maudie stets in ihrer unverblümten Art hinzu. Es war einfach aufregend, und Lucy wollte um keinen Preis den Sommer in Darwin verpassen, da ein gewisser Herr endlich nach Hause kam, der beinahe zwei Jahre in London verbracht hatte. Ein überaus wichtiger junger Herr, der ihr während seiner Abwesenheit allmonatlich geschrieben hatte, ohne auch nur einen Brief auszulassen. Lucy Hamilton brauchte sich auf dem Heiratsmarkt nicht in die Gruppe der verfügbaren Mädchen einzureihen, denn die Liebe ihres Lebens kam nach Hause. Sie und Myles Oatley waren Freunde von Kindesbeinen an, und er hatte sie vor seiner Abreise gebeten, auf ihn zu warten. In ihrem ersten Brief hatte sie ihm geschrieben, er brauche nicht erst darum zu bitten, sie werde auf ihn warten, ihre Liebe würde durch die Trennung nur noch süßer. Ihre Eltern waren glücklich über die Verbindung, denn sie mochten Myles, den einzigen Sohn alter Freunde. Maudie jedoch hatte, typisch für sie, einen anderen Rat zu vergeben. »Du solltest nicht herumsitzen und auf ihn warten. Beackere lieber das Feld. Mach dir eine schöne Zeit, hock nicht zu Hause wie eine alte Jungfer. Guter Gott, du bist gerade mal zwanzig. Solltest schon mehr als einen Freund gehabt haben. Und hör auf meine Worte, Lucy: Setz nicht alles auf eine Karte. Bestimmt kommt er völlig verändert aus London zurück und prahlt mit seinen schicken Freunden. Er wird kein Bushie mehr sein, er wird nicht mehr sein wie wir, wart’s ab.« »Das ist doch lächerlich«, hatte Sibell eingewendet. »Seine Eltern sind in den Flitterwochen auf Weltreise gegangen, und als sie nach Hause kamen, haben sie sich augenblicklich auf der Oatley-Station niedergelassen, als wären sie nur eben um die Ecke gewesen. Sie haben nie so getan, als seien sie etwas Besseres.« »Ja,
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