Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
»War sie wirklich so schlimm, wie man behauptet?«
Die Säule musste ihn nachdenklich gestimmt haben. »Anfangs nicht. Damals nannte man sie noch Agnalain, die Gerechte. Aber sie hatte eine dunkle Ader, die sich mit dem Alter verschlimmerte. Manche meinen, sie hätte vom Blut ihres Vaters hergerührt. Andere sagen, es hätte an ihren Schwierigkeiten gelegen, Kinder zu bekommen. Ihr erster Gemahl bescherte ihr zwei Söhne. Danach schien sie jahrelang unfruchtbar und entwickelte allmählich eine Vorliebe für junge Männer und öffentliche Hinrichtungen. Erius’ eigener Vater wurde wegen Verrats aufs Schafott verbannt. Danach war niemand mehr sicher. Bei den Vieren, ich kann mich noch immer an den Gestank der Galgenkäfige erinnern, die entlang der Straßen um Ero aufgestellt wurden! Alle hofften, dass sich ihr Gemütszustand bessern würde, als sie endlich eine Tochter gebar, doch dem war nicht so. Es wurde nur noch schlimmer.«
In jenen schwarzen Tagen war es für Agnalains ältesten Sohn, Prinz Erius – schon damals ein kampferprobter Krieger und Liebkind des Volkes – einfach gewesen zu behaupten, dass die Worte des Orakels falsch ausgelegt wurden und sich die Prophezeiung nur auf König Thelátimos’ Tochter, nicht auf eine weibliche Erbfolge an sich bezog. Der wackere Prinz Erius schien unbestreitbar besser für den Thron geeignet als die einzige unmittelbare weibliche Erbin; seine Halbschwester Ariani hatte gerade erst ihren dritten Geburtstag gefeiert.
Dabei ging die Tatsache unter, dass Skala unter seinen Königinnen unvergleichlich aufgeblüht war, während der bis dahin einzige andere Mann, der den Thron bestiegen hatte, Ghërilains Sohn Pelis, dem Reich während seiner kurzen Herrschaft sowohl Seuchen als auch Dürren beschert hatte. Erst, als seine Schwester seinen Platz einnahm, hatte Illior das Land wieder beschützt – wie das Orakel es versprochen hatte.
Bis jetzt.
Als Agnalain so unverhofft starb, wurde gemunkelt, Prinz Erius und sein Bruder Aron hätten die Hände dabei im Spiel gehabt. Allerdings flüsterte man das Gerücht eher erleichtert als verurteilend; jeder wusste, dass Erius während der letzten, schrecklichen Jahre des Niedergangs seiner Mutter außer dem Namen nach ohnehin bereits geherrscht hatte. Das wieder aufflammende Rumoren aus Plenimar wurde zu laut für die Adeligen, um für eine kindliche Königin das Wagnis eines Bürgerkriegs einzugehen. Somit ging die Krone unangefochten an Erius. Im selben Jahr griff Plenimar die südlichen Häfen an; Erius trieb die Eindringlinge zurück ins Meer und verbrannte ihre schwarzen Schiffe. Damit schien die Prophezeiung widerlegt.
Dennoch hatte es in den vergangenen neunzehn Jahren mehr Seuchen und Dürren gegeben, als sie selbst die ältesten Zauberer davor gekannt hatten. Die gegenwärtige Trockenheit ging in manchen Landesteilen in ihr drittes Jahr und hatte ganze Dörfer ausgelöscht, die bereits von Lauffeuern und über die nördlichen Handelspfade eingeschleppten Seuchen gezeichnet gewesen waren. Arkoniels Eltern waren vor einigen Jahren einer solchen Massenerkrankung zum Opfer gefallen.
Binnen weniger Monate wurde ein Viertel der Bevölkerung von Ero hingerafft, darunter Prinz Aron sowie Erius’ Gemahlin, seine beiden Töchter und zwei seiner drei Söhne. Nur der zweitjüngste Knabe, Korin, lebte noch. Seither wurden die Worte des Orakels in einigen Vierteln wieder getuschelt.
Iya hatte mittlerweile eigene Gründe, Erius’ Handstreich zu bedauern. Seine längst erwachsene Schwester Ariani hatte Iyas Schirmherrn, den mächtigen Herzog Rhius von Atyion geheiratet. Das Paar erwartete im Herbst ihr erstes Kind.
Beide Zauberer schwitzten und keuchten, als sie die schmale Sackgasse erreichten, in der sich der Schrein befand.
»Nicht ganz, was ich erwartet hatte«, murmelte Arkoniel, während er betrachtete, was ein breiter Steinbrunnen zu sein schien.
Iya kicherte. »Urteile nicht vorschnell.«
Zwei kräftige Priester in staubigen, roten Gewändern und mit Silbermasken saßen im Schatten eines Holzverschlags neben dem Brunnen. Iya gesellte sich zu ihnen und ließ sich schwerfällig auf einen Sitz aus Stein plumpsen. »Ich brauche Zeit, um meine Gedanken zu ordnen«, sagte sie zu Arkoniel. »Du gehst zuerst.«
Die Priester trugen eine Rolle dicken Seils zum Brunnen und bedeuteten Arkoniel, zu ihnen zu kommen. Er bedachte Iya mit einem verkniffenen Lächeln, als die beiden ihm das Seil um die Hüfte schlangen. Nach wie vor
Weitere Kostenlose Bücher