Sherlock Holmes - gesammelte Werke
E INE S KANDALGESCHICHTE IM F ÜRSTENTUM O.
I.
Ich hatte mich vor Kurzem verheiratet und daher in letzter Zeit nur wenig von meinem Freund Sherlock Holmes gesehen. Mein eigenes Glück und meine häuslichen Interessen nahmen mich völlig gefangen, wie es wohl jedem Mann ergehen wird, der sich ein eigenes Heim gegründet hat, während Holmes, seiner Zigeunernatur entsprechend, jeder Art von Geselligkeit aus dem Weg ging. Er wohnte noch immer in unserem alten Logis in der Baker Street, begrub sich unter seinen alten Büchern und wechselte zwischen Kokain und Ehrgeiz, zwischen künstlicher Erschlaffung und der aufflammenden Energie seiner scharfsinnigen Natur. Noch immer wandte er dem Verbrecherstudium sein ganzes Interesse zu, und seine bedeutenden Fähigkeiten sowie seine ungewöhnliche Beobachtungsgabe ließen ihn den Schlüssel zu Geheimnissen finden, welche die Polizei längst als hoffnungslos aufgegeben hatte. Von Zeit zu Zeit drang irgendein unbestimmtes Gerücht über seine Tätigkeit zu mir. Ich hörte von seiner Berufung nach Odessa wegen der Mordaffäre Trepoff, von seiner Aufklärung der einzig dastehenden Tragödie der Gebrüder Atkinson in Trimonale und schließlich von der Mission, die er im Auftrag des holländischen Herrscherhauses so taktvoll und erfolgreich zu Ende geführt hatte. Sonst wusste ich von meinem alten Freund und Gefährten wenig mehr als alle Leser der täglichen Zeitungen.
Eines Abends, es war am 20. März 1888, führte mich mein Weg durch die Baker Street; ich kam gerade von einer Konsultation zurück, da ich wieder meine Privatpraxis aufgenommen hatte. Als ich mich der wohlbekannten Tür näherte, ergriff mich der unwiderstehliche Drang, Holmes aufzusuchen, um zu erfahren, welcher Angelegenheit er augenblicklich sein außergewöhnliches Talent widmete. Seine Zimmer waren glänzend erleuchtet, und beim Hinaufsehen gewahrte ich den Schatten seiner großen, mageren Gestalt. Den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände auf dem Rücken, durchmaß er schnell und eifrig das Zimmer. Ich kannte seine Stimmungen und Angewohnheiten viel zu genau, um nicht sofort zu wissen, dass er wieder in voller Tätigkeit war. Er hatte sich aus seinen künstlich erzeugten Träumen emporgerafft und war nun einem neuen Rätsel auf der Spur. Ich zog die Glocke und wurde in das Zimmer geführt, das ich früher mit ihm geteilt hatte.
Sein Benehmen war nicht übermäßig herzlich zu nennen. Das war bei ihm überhaupt selten der Fall, und doch hatte ich das Gefühl, dass er sich freute, mich zu sehen. Er sprach kaum ein Wort, aber nötigte mich mit freundlichem Gesicht in einen Lehnstuhl, reichte mir seinen Zigarrenkasten herüber und zeigte auf ein Likörschränkchen in der Ecke. Dann stellte er sich vor das Feuer und betrachtete mich in seiner sonderbar forschenden Manier.
»Die Ehe bekommt Ihnen, Watson«, bemerkte er. »Ich glaube, Sie haben siebeneinhalb Pfund zugenommen, seit ich Sie zuletzt sah.«
»Sieben«, antwortete ich.
»Wirklich? Ich hätte es für etwas mehr gehalten. Nur eine Kleinigkeit mehr, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich bemerke; Sie erzählten mir nichts von Ihrer Absicht, wieder ins Joch gehen zu wollen.«
»Woher wissen Sie es denn?«
»Ich sehe es, ich folgere es eben. Ich weiß auch, dass Sie kürzlich in einem tüchtigen Unwetter draußen gewesen sind und dass Sie ein sehr ungeschicktes, nachlässiges Dienstmädchen haben müssen.«
»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »nun hören Sie auf; vor einigen Jahrhunderten würden sie Sie wahrscheinlich verbrannt haben. Ich habe allerdings am vorigen Donnerstag eine Landtour gemacht und kam furchtbar durchnässt und beschmutzt nach Hause, aber woraus Sie das schließen wollen, weiß ich doch nicht, da ich ja sofort meine Kleider wechselte. Und Marie Johanne ist wirklich unverbesserlich, meine Frau hat ihr schon den Dienst gekündigt, aber um alles in der Welt, wie können Sie das wissen?«
Er lachte in sich hinein und rieb seine schmalen, nervösen Hände.
»Das ist doch so einfach«, meinte er, »meine Augen sehen deutlich, dass auf der Innenseite Ihres linken Stiefels, die gerade jetzt vom Licht erhellt wird, das Leder durch sechs nebeneinanderlaufende Schnitte beschädigt ist. Das kann nur jemand getan haben, der sehr achtlos den getrockneten Schmutz von den Rändern der Sohle abkratzen wollte. Daher meine doppelte Vermutung, dass Sie erstens bei schlechtem Wetter ausgegangen sind und zweitens ein besonders nichtswürdiges,
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