Taylor Jackson 02 - Der Schneewittchenmörder
auftauchte. So oft passierte genau das. Er unterdrückte ein Schluchzen und schüttete den Rest des bitter schmeckenden Kaffees über die Brüstung. Verdammt. Es half der Sache kein Stück, wenn er nur hier herumstand und sich selber krank redete. Er brauchte etwas zu tun. Und er würde nicht akzeptieren, dass sie weg war. Zumindest nicht einfach so.
Seine Gedanken liefen kreuz und quer. Er musste an die verschlossene Kassette denken, die auf dem obersten Regal im Schrank ihres Gästezimmers stand. Dort befanden sich all ihre Papiere: ihr Testament, ihre letzten Wünsche. Er hatte sich die Sachen nie angesehen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihre Organe spenden wolle und im Falle eines Hirntods nicht am Leben erhalten werden solle, aber weiter hatten sie darüber nicht gesprochen. Würde sie in Tennessee begraben werden wollen? Eingeäschert? Wenn sie keine Leiche fanden, was würde er dann für sie tun? Hat sie in ihrem Testament Vorkehrungen getroffen für …”
„ Stopp! “, sagte er laut. „Hör sofort auf“, fügte er etwas sanfter hinzu. Das waren zu diesem Zeitpunkt alles unnötige Gedanken. Sie würde dich nicht so leicht aufgeben.
Dermaßen gestärkt, machte er sich auf den Weg zum Kommandotisch. Mitchell Price war noch vor Ort, wartete auf Neuigkeiten. Baldwin ging auf ihn zu, berührte den Arm des älteren Mannes. Price drehte sich zu ihm um. Seine Augen waren rot gerändert vom mangelnden Schlaf. Sein Schnurrbart hing schlapp herunter, auf seiner Stirnglatze glänzte kalter Schweiß.
„Gibt es was Neues, Captain?“
Price schüttelte den Kopf. „Sie finden da unten einfach keine Spuren, Baldwin. Die Temperatur ist zu niedrig, als dass sie überlebt hätte, wenn sie hineingefallen wäre. Selbst die Taucher haben schon Schwierigkeiten. Es sieht nicht gut aus, mein Sohn.“
Warum nennt mich auf einmal jeder „Sohn“, fragte sich Baldwin. Erst Fitz, jetzt Price. Er unterdrückte den aufsteigenden Ärger, weil er wusste, dass Price es nicht böse meinte, sondern ihn nur trösten wollte. Und schließlich war es nicht ihr Fehler, dass es sein Herz nur noch mehr zusammenschrumpfen ließ. Sein Dad hatte ihn Sohn genannt, seine Mutter auch. Aber sie waren schon so lange weg, dass er sich kaum noch an den Klang ihrer Stimme erinnern konnte. Die süße Melodie des Südstaatenakzents seiner Mutter schwebte durch seinen Kopf und war verschwunden, bevor er sie bemerkt hatte. Verdammt.
Price hatte sich umgedreht und führte Baldwin zu seinem Auto zurück. „Hör zu, lass uns ins Hauptquartier zurückfahren. Hier können wir doch nichts tun. Wenn sie letzte Nacht hier reingefallen ist, Baldwin, besteht keine Hoffnung mehr. Also sollten wir erst einmal herausfinden, ob das denn wirklich so passiert ist. Okay?“
Baldwin warf einen Blick über seine Schulter und starrte auf das trübe Wasser. Price hatte recht.
Sie setzten sich ins Auto, schnallten sich an und fuhren die kurze Strecke zum CJC hinüber. Es war an der Zeit, ganz neu anzufangen.
29. KAPITEL
Nashville, Tennessee
Sonntag, 21. Dezember
11:00 Uhr
Das entwickelte sich langsam zu einem richtig guten Tag.
Insgeheim hatte Charlotte letzte Nacht frohlockt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht durch die unterirdischen Räume verbreitet, in der sich die Einheit für Verhaltensforschung befand. Und ihre Freunde hatten dafür gesorgt, dass sie ebenfalls darüber informiert wurde. John Baldwins Hochzeit hatte nicht stattgefunden. Seine Braut hatte ihn am Altar stehen lassen. Zur Feier des Tages hatte Charlotte eine Flasche Piper Heidsieck geöffnet, sich ein Bad eingelassen und im warmen Wasser wild masturbiert.
Es war nicht so, dass sie ihm Schlechtes wünschte. Na ja, vielleicht doch. Vielleicht war sie einfach so verdammt glücklich darüber, dass er immer noch ein freier Mann war, sie bei ihm vorbeifahren und ihn angemessen trösten könnte.
Direkt danach hatte die stille Post angefangen. Taylor Jackson war wie vom Erdboden verschwunden. Die Limousine, mit der sie gefahren worden war, stand auf dem Parkplatz, genau wo sie sein sollte. Der Fahrer war nicht aufzufinden. Es gab vage Gerüchte über eine Suchaktion am Flughafen. Später, nach Sonnenuntergang, war ein Schuh am Ufer des Cumberland River gefunden worden, ein Brautschuh. Taucher durchsuchten den Fluss bis weit nach Mitternacht. Bis sie ins Bett gegangen war, hatte es noch keine Ergebnisse gegeben.
Als Charlotte langsam eingeschlafen war, war sie von der tiefen, befriedigenden
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