Terra Mater
inkompetent und schwach gewesen, keine magnetische Barriere zwischen den beiden Regionen zu errichten. Diese Politik sei erst zwei Jahrhunderte später von den berühmten Tyrannen der PUGU (der Partei der Ultragesunden Ut-Gens) korrigiert worden, indem sie die Quarantäner in riesige Luftschiffe verfrachtet hätten, die während des Flugs darauf programmiert waren, zu explodieren. Die Herrscher seinerzeit glaubten, Anjor von dem infizierten Gesindel befreit zu haben, doch etliche waren den Todesbrigaden entkommen, weil sie sich in den Abwasserkanälen der Hauptstadt versteckt hatten. Auf diese Weise war das Nord-Terrarium entstanden.
Als Jek zum ersten Mal das monumentale Tor des Ghettos durchschritt, hatte er einen furchtbaren Schrecken beim Anblick der spitzen ineinander verschlungenen Betonpfähle bekommen, die die riesigen Trichter in der Erde umgaben. Er hatte erwartet, aus den unzähligen schwarzen Höhlen,
deren Eingänge an den glatten Abhängen der Schächte wie Löcher klafften, abscheuliche Monster auftauchen zu sehen, und nur die spöttischen Bemerkungen seiner Freunde hatten ihn damals davon abgehalten, gleich wieder umzukehren. Doch dann hatte er festgestellt, dass die Quarantäner fast Menschen wie alle anderen waren. Er hatte sich an ihre entstellten Gesichter und Körper, an das seltsame Gluckern in ihren Bäuchen während des Sprechens gewöhnt und ihre Warmherzigkeit, ihren Humor und ihre Lebensfreude schätzen gelernt. Ihre Vorfahren waren zwar dem Zorn des Sonnengottes der H-Prime-Religion zum Opfer gefallen, aber sie litten nicht unter diesem alles beherrschenden Missmut, der die auf der Oberfläche lebenden Anjorianer innerlich zerfraß.
Die Kreuzler-Missionare wagten sich nicht in das Nord-Terrarium. Was nicht bedeutete, dass die Kirche sich nicht für das Schicksal der Quarantäner interessierte. P’a At-Skin hatte davon gesprochen, der Kardinal Fracist Bogh und seine Ratgeber dächten über eine radikale Intervention nach, um das Ghettoproblem ein für alle Mal zu lösen.
Jek lief die Treppe zum Schacht A 102 hinunter, bis zum obersten Ponton. Hier herrschte Dunkelheit. Seine Schritte auf den metallenen Stufen hallten dumpf von den Wänden wider. Er ging zu der Leuchtkonsole in einem der schwebenden Leitungsmasten und drückte auf den Knopf, der die Gravitationsplattform herbeirief. Ein peitschender Wind wehte ihm seine Haare ins Gesicht. Er musste sich an das Geländer des Pontons klammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in den einige hundert Meter tiefen Abgrund zu stürzen. Über ihm waren die Sterne und die bleichen Sicheln der Satelliten durch den dichten Nebel kaum zu sehen.
Kurz darauf tauchte die Plattform aus dem Dunkel auf und dockte langsam an dem Ponton an. Jek gab die Zahlen 2,5,4 mit der Tastatur der Konsole ein und stellte sich vorsichtig in die Mitte der kreisrunden, im Durchmesser etwa zwanzig Meter großen Plattform. Sie war mit keinem Schutzgeländer versehen wie die Plattformen des TRA, sondern von einem künstlichen Gravitationsfeld umgeben. Deshalb ging Jek, auch tagsüber, nie an den Rand, um nach unten zu schauen. Wie erstarrt stand er jetzt da und wartete auf das erlösende Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Die Plattform schwankte leicht, drehte sich um sich selbst und begann mit einem leisen Summen ihren Abstieg. Sofort gewann sie rapide an Fahrt. Da kein Zwischenstopp einprogrammiert worden war, wurde die Beschleunigung durch nichts gebremst. Obwohl Jek von der künstlichen Schwerkraft gehalten wurde, überkam ihn plötzlich die Angst, in dieser totalen Finsternis in den Abgrund zu stürzen. Sein Herz raste.
Als die Plattform langsamer wurde, beruhigte sich Jeks Herzschlag. Sie legte mit einem Klick an einem schmalen Rezepti ons-Ponton an. Das künstliche Gravitationsfeld wurde deaktiviert. Noch benommen und mit weichen Knien machte sich Jek auf den Weg, ohne wie sonst einen Blick in Richtung Schachtöffnung zu werfen, die von oben so groß und von unten so klein wirkte. Ohne zu überprüfen, ob er wirklich auf dem Niveau-254 angekommen war, ging er direkt in den Tunnel, der zu den unterirdischen Behausungen führte.
Er lief zur ersten Weggabelung, einem kleinen, von einem Deckengewölbe überspannten Platz, von dem ein Dutzend weitere Gänge abzweigten. Er konnte fast nichts sehen,
aber dank seiner früheren Besuche kannte er den Weg. Die Leuchtstränge in den Tunneldecken brannten nicht. Nur schmale Lichtstreifen
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