dünnes T-Shirt bedeckte seine schlanken Schultern.
Ich wollte ihm seinen Pullover über die Schultern legen, doch er schüttelte ihn ab, ließ ihn auf den Boden gleiten.
Ich wartete.
Nach einiger Zeit griff er nach hinten, suchte meine Hand und zog mich nach vorne.
Ich kniete mich neben ihn und für eine kurze Zeit lang beteten wir wortlos zusammen.
Nun verstand ich.
Dies war wirklich ein kaltes Land.
Wir setzten uns wieder auf unsere Stühle, streckten unsere Beine aus und genossen die durchdringende Stille.
Trotz Hemd und Jacke wurde mir kalt.
Thomas nahm meine Hand.
Wir froren zusammen.
*****
E in jüngerer Mann mit Koffer und schwarzen Locken betritt den Innenraum.
Er sieht uns erst, als er schon vorne am Altar seinen Koffer öffnet.
Dschihad- Kämpfer oder Künstler ??
Ganz klar. Es drohte nun ein Selbstmordattentat oder eine musikalische Darbietung.
Thomas ringt erkennbar mit sich, was denn für ihn im Augenblick das größere Übel wäre.
Wenn ’s uns nicht stört, würde er ganz gern schon mal die Akustik hier heute Abend noch testen, tönt es gedämpft von ganz weit vorne, allein für sich, vor der Probe mit dem Orchester morgen um elf.
Okay, ein Künstler gottlob!
Natürlich stört uns das nicht.
Er setzt seine Geige an.
Er spielt allein für sich, allein für uns die Méditation aus »Thaïs« von Jules Massenet.
Für gut vier Minuten wird so die kahle karge Kirchenhalle zur Kathedrale.
Thomas kann mit klassischer Musik nichts anfangen.
Thomas zittert nicht mehr.
Ist er da vorn etwa ein Star, den man besser kennen sollte.
Zwei überbewertete Elitestudenten sind gerade dabei, sich so was von zu blamieren, wegen ihrer (unzureichenden) Kenntnisse in der Klassikmusikszene.
Als die Türen geschlossen werden, treten wir mit ihm hinaus in die Hochsommernacht.
Tief unten fließt der Rhein in einem riesigen Strom dahin.
Der Geigenspieler fragt uns gottlob nicht, ob er gut war.
Hätte peinlich werden können.
Für uns, nicht für ihn.
Fackeln weisen den Weg zum Parkplatz, wo er seinen schwarzen Peugeot geparkt hat.
Wir bleiben zurück.
Thomas beklagt sich, wie kalt ihm ist.
Er zieht sich sein T-Shirt nach vorne über den Kopf, lässt die Wärme des ausklingenden Sommertages an seinen Rücken, seine Schultern, seine Brust.
An der Haltestelle warten wir auf den Shuttle Bus.
Der Fahrer lässt Thomas erst einsteigen, als er sein T-Shirt wieder angezogen hat. Den Pullover hat er wohl irgendwo auf dem Fußboden in der Kirche vergessen.
Wir fahren zu unserer Unterkunft.
Thomas friert während er ganzen Fahrt, obwohl es im Bus stickig und geradezu schweißtreibend schwül ist.
Wir essen noch ein Sandwich, dann gehn wir nach oben ins Zimmer.
Thomas stellt sich in seiner Unterhose ans offene Fenster, blickt hinüber auf die beleuchte Kirche, wärmt sich an der Abendluft, man kann auch hier oben noch das Wasser des riesigen Flusses riechen, dann legt er sich schlafen, zugedeckt, Brust und Schultern jedoch frei.
Er atmet tief.
Ich nehme wie immer das obere Bett.
Ich spüre die Kälte, die Thomas spürt.
Es ist ein kaltes Land.
Morgen sollen die Höchsttemperaturen sechsunddreißig Grad Celsius betragen.
*****
Der Autor
Benedikt Altmann , geboren in Hamburg. Abitur an einem renommierten Internat in Süddeutschland, Studium in Freiburg i. Brsg. und Bad Honnef. Zur Zeit lebt Benedikt Altmann in Zürich. Seine absolute Lieblingsinterpretation der Méditation aus »Thaïs« von Jules Massenet ist diejenige von Vladimir Spivakov und Sergei Bezrodny (BMG Music 1995). Bei npp ist von Benedikt Altmann bislang auch der erste Teil seiner bewegenden autobiographischen Trilogie Das Land jenseits des Waldes erschienen (Bestell-Nr. 0008573-23 [ebook]).
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[email protected] Ebook Ausgabe, 1.Auflage, 2012
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Altmann, Benedikt: Thaïs- Eine Erzählung in tausend Worten,(ebook Ausgabe), 1. Auflage, Berlin/ Freiburg i. Brsg./ Augsburg: npp, 2012
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