About Ruby
Kapitel eins
»Und zu guter Letzt die Hauptsache«, meinte Jamie, während er eine weitere Tür öffnete. »Dein Zimmer!«
Ich hatte mich auf Rosa gefasst gemacht. Rüschen, Quilts, eventuell sogar ein paar putzige Applikationen. Was wahrscheinlich etwas unfair war; andererseits kannte ich meine Schwester im Grunde nicht (beziehungsweise nicht mehr), geschweige denn ihren Geschmack in puncto Inneneinrichtung. Außerdem verfahre ich eigentlich immer so: Bei Leuten, die ich nicht kenne, gehe ich erst einmal und automatisch vom Schlimmsten aus. In der Regel enttäuschen sie einen nicht, weder die Fremden noch – das nur am Rande erwähnt – diejenigen, die man am besten zu kennen glaubt.
Doch die erste Farbe, die mir ins Auge stach, war Grün: durch ein riesiges Fenster, vor dem nicht weit entfernt hohe Bäume standen, die Garten und Haus von den nächsten Nachbarn abschirmten. Alles war groß, da, wo meine Schwester und ihr Mann Jamie wohnten: von den Häusern über die Autos bis hin zu der Steinmauer, die man als Erstes sah, wenn man in das Viertel hineinfuhr; sie bestand aus dermaßen gigantischen Felsbrocken, dass man sich unwillkürlich fragte, wie sie überhaupt dorthin geschafft worden waren. Eine Art Stonehenge, bloß in der Vorstadt. Krass.
Mitten in diesen Gedanken hinein fiel mir plötzlich auf, dass wir uns nach wie vor im Flur befanden, hintereinander aufgereiht, als stünden wir im Stau. Jamie, unser Führer auf dieser kleinen Tour, war irgendwann zur Seite getreten, sodass ich nun vor den beiden anderen im Türrahmen stand. Offensichtlich wollten sie, dass ich als Erste eintrat. Also tat ich ihnen den Gefallen.
Das Zimmer war – groß, klar. In der Tat. Die Wände cremefarben. Unter dem riesigen Fenster, das mir zuerst aufgefallen war, befanden sich noch drei weitere, vor denen allerdings cremefarbene Jalousien hingen. Rechts von mir stand ein Doppelbett mit einem gelben Plumeau, farblich darauf abgestimmten Kissen und einer ordentlich zusammengefalteten, weißen Wolldecke, die auf dem unteren Ende des Plumeaus lag. Außerdem gab es einen kleinen Schreibtisch; der dazugehörige Stuhl war ordentlich daruntergeschoben. Der Raum hatte Dachschrägen, die jedoch an ihrem höchsten Punkt nicht spitz zuliefen. Stattdessen war der Giebel flach sowie breit genug für ein quadratisches Oberlicht, das ebenfalls durch eine Jalousie bedeckt wurde – eine kleine, quadratische, horizontal angebrachte Jalousie, garantiert eine Spezialanfertigung. Giebel, Jalousie, Oberlicht: Alles passte so perfekt zueinander, dass ich mich dabei ertappte, wie ich einen Moment lang stumm dort hinaufstarrte. Als wäre ausgerechnet und merkwürdigerweise der Anblick dieses Ensembles das Merkwürdigste, das mir an diesem merkwürdigen Tag widerfuhr.
»Du hast natürlich ein eigenes Badezimmer.« Jamie lief um mich herum;
Tapptapptapp
– ein sehr leises
Tapp
– machten seine Füße auf dem Teppichboden, auf dem selbstverständlich kein einziger Fleck zu entdecken war. Im Gegenteil, das ganze Zimmer, nein, das gesamte Haus roch nachFarbe und neuem Teppich. Wann sie wohl eingezogen waren? Vor einem Monat? Einem halben Jahr? »Hinter dieser Tür. Von da geht es auch in eine Kammer mit eingebautem Wandschrank. Bisschen ungewöhnlich, der Grundriss, stimmt. Aber unser Schlafbereich ist genauso eingerichtet. Als wir das Haus gebaut haben, behauptete Cora steif und fest, auf die Weise würde sie schneller fertig. Eine Theorie, die sich erst noch bestätigen muss, wenn ich das so sagen darf.«
Er lächelte mich an. Ich zwang mich, sein Lächeln zu erwidern. Wer war dieses sonderbare Wesen, mein Schwager in seinem Mountainbike-Funktionsshirt, Jeans und schicken, teuren Turnschuhen, der in dem offenkundigen Bemühen herumwitzelte, die Atmosphäre aufzulockern? Eine extrem angespannte Situation ein wenig zu entkrampfen? Ich hatte keinen Schimmer, wusste bloß eins: Niemals hätte ich gedacht, dass sich meine Schwester mit so jemandem zusammentun würde. Meine steife Schwester, die grundsätzlich so wirkte, als hätte sie einen Stock verschluckt, und nicht einmal einen höflichen Ansatz machte, über Jamies leicht bemühte Scherze zu lachen. Während ich es zumindest versuchte.
Aber Cora doch nicht. Sie war in der Tür stehen geblieben, eher draußen als drinnen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie trug einen ärmellosen Pulli – im Haus war es nicht nur gemütlich warm, sondern fast zu heiß, und das im Oktober
Weitere Kostenlose Bücher