Tief im Herzen: Roman (German Edition)
Jetzt erst bemerkte Cam, daß er den Kleinen seitdem nie mehr ohne die Mütze gesehen hatte.
Das Baseballspiel war eine spontane Idee gewesen, bei der er sich nichts weiter gedacht hatte. Aber es hatte ihm einen schmerzhaften Stich gegeben, Seths Freude beim Anblick der Camden Yards zu sehen. Der Junge hatte sogar vergessen, seinen Hot dog zu essen, so sehr war er dem Geschehen auf dem Spielfeld gefolgt.
Cam sah zu, wie Seth die nächste Schindel wegschleuderte, und er überlegte, ob er dem Kleinen nicht beibringen sollte, wie man einen Ball plazierte. Sofort ärgerte er sich über diesen Gedanken. »Du achtest nicht darauf, wohin du sie wirfst.«
»Ich weiß, wo sie landen. Wenn’s dir nicht gefällt, wie ich werfe, dann mach’s doch selber. Du hast gesagt, ich könnte auch welche losmachen.«
Lohnt sich nicht, dachte Cam. Lohnt sich nicht, darüber zu streiten. »Schön, du willst also Schindeln von dem verdammten Dach abreißen. Hier, schau her, siehst du, wie ich es mache? Du nimmst den Hammer und …«
»Ich beobachte dich seit einer Stunde. Man braucht nicht schlau zu sein, um Dachschindeln abzureißen.«
»Fein«, sagte Cam mit zusammengebissenen Zähnen. »Dann leg los.« Er legte den Hammer in Seths eifrig ausgestreckte Hand. »Ich gehe nach unten. Ich brauche was zu trinken.«
Cam kletterte wendig die Leiter hinunter und stellte fest, daß alle zehnjährigen Jungen arrogante Schnösel waren. Und je mehr Schindeln der Kleine löste, um so weniger würde er später zu tun haben. Falls er den Tag überlebte, würde er abends Anna treffen.
Das war vielleicht eine Frau, dachte er, als er nach dem Krug mit dem Eiswasser griff und einen kräftigen Schluck nahm. Beinahe die ideale Frau. Eigentlich fühlte er sich bei solchen Gedanken eher unbehaglich. Es fiel ihm schwer, Fehler an ihr zu finden. Sie war schön, klug und sexy. Er liebte ihr tolles Lachen, liebte ihre herrlichen, warmen, verständnisvollen Augen, ihren Sinn für Abenteuer. Und sie konnte kochen.
Er lachte in sich hinein und holte ein weiteres Halstuch heraus, um sich das Gesicht abzuwischen.
Tja, wenn er der häusliche Typ wäre, dann würde er sie sich sofort schnappen, ihr einen Ring an den Finger stekken, ja sagen und sie auf Dauer in sein Haus – in sein Bett – verfrachten.
Heiße Mahlzeiten, heißer Sex.
Gespräche. Lachen. Ein verträumtes Lächeln, das ihn morgens weckte. Blicke, die mehr sagten als alle Worte.
Als Cam merkte, daß er in die Ferne starrte und albern grinste, schüttelte er sich kräftig.
Die Sonne hatte seinem Kopf zugesetzt, entschied er. Dauerhafte Beziehungen waren nicht sein Stil, waren es nie gewesen. Und die Ehe – das Wort ließ ihn schaudern –
war für andere Leute bestimmt. Gott sei Dank wollte Anna auch nicht mehr. Ihre schöne, lockere Beziehung stellte sie beide zufrieden.
Um dafür zu sorgen, daß sein Kopf nicht wieder heißlief, übergoß er sich mit eiskaltem Wasser. Sechs Monate, gelobte er sich, sechs Monate, und er würde allmählich in seine Welt zurückkehren. Wettbewerb, Geschwindigkeit, Glitzerpartys und Frauen, die nur auf schnelle Abenteuer aus waren. Er fluchte, denn die Gedanken daran berührten ihn nicht sonderlich. Aber das war es doch, was er wollte. Was er kannte. Wohin er gehörte. Er war nicht dazu geschaffen, ein Leben lang Boote zu bauen, einen Jungen großzuziehen und sich den Kopf über passende Sokken zu zerbrechen.
Sicher, vielleicht würde er dem Kleinen beibringen, wie man einen Bodenball oder einen Schmetterball schlug, aber das war keine große Sache. Vielleicht war Anna Spinelli fest in seinen Gedanken verankert, aber das mußte auch keine große Sache sein.
Er brauchte Raum, er brauchte Freiheit. Er brauchte Rennen.
Seine Gedanken überschlugen sich, als er wieder nach draußen ging. Er erschrak, denn die Aluminiumleiter fiel ihm beinahe auf den Kopf. Sein heftiger Fluch und der erstickte Schrei von oben überschnitten sich.
Als er aufblickte, hielt er den Atem an.
Seth hing an einem Fensterrahmen in sechs Meter Höhe. In Sekundenschnelle nahm Cam Seths Turnschuhe, baumelnde Schnürsenkel, seine hinuntergerutschten Sokken wahr. Und er sah, wie Ethan und Phillip sich über den Rand des Dachs beugten und sich alle Mühe gaben, den Jungen zu erreichen.
»Halt dich gut fest«, rief Ethan. »Hörst du mich?« »Ich kann nicht.« Vor Panik klang Seths Stimme dünn und sehr, sehr jung. »Ich rutsche.«
»Von hier aus können wir ihn nicht erreichen.«
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