Tief im Herzen: Roman (German Edition)
sich von dem Plan, zwei Wochen in der Karibik zu verbringen. »Das verschafft uns ein paar Wochen Zeit. Ich kann mich mit dem Anwalt kurzschließen und mich mit der Sozialarbeiterin befassen.«
»Ich befasse mich schon mit ihr.« Cam lächelte leicht. »Mir gefällt, wie sie aussieht, und ich sollte mir ein wenig Ablenkung verschaffen. Aber natürlich hängt alles davon ab, was der Kleine heute zu ihr gesagt hat.«
»Ich hab’ ihr gesagt, daß ich hierbleiben will«, murmelte Seth. In seinen Augen brannten Tränen. Das Essen auf seinem Teller war unberührt. »Ray hat gesagt, es ginge in Ordnung. Er sagte, ich könne bleiben. Er sagte, er würde es so einrichten, daß es geht.«
»Und wir, seine Söhne, werden es so einrichten«, versprach Cam.
Später, nachdem der Mond aufgegangen war und die dunkle Wasseroberfläche von seinem leuchtend weißen Strahl in zwei Hälften geteilt wurde, stand Phillip draußen auf dem Anlegesteg. Die Luft war jetzt kalt, der feuchte
Wind brachte den eisigen Hauch des Winters mit, der immer noch gegen den Frühling kämpfte.
Das paßte zu seiner Stimmung. In ihm tobte ein Krieg zwischen Gewissen und Ehrgeiz. Im Verlauf zweier kurzer Wochen war das Leben, das er für sich entworfen, sorgfältig geplant und mit Überlegung und harter Arbeit verwirklicht hatte, durcheinandergebracht worden.
Und jetzt, da er von der Trauer um seinen Vater noch wie gelähmt war, verlangte man von ihm, seine Wohnung aufzugeben und all seine ausgeklügelten Pläne zu vergessen.
Er war dreizehn gewesen, als Ray und Stella Quinn ihn aufnahmen. Die meisten Jahre davor hatte er auf der Straße verbracht, auf der Flucht vor dem System. Er war ein gewiefter Dieb gewesen, hatte sich mit Begeisterung an Raufereien beteiligt und Drogen und Alkohol benutzt, um die Häßlichkeit ringsum zu vergessen. Die Sozialsiedlungen von Baltimore waren sein Revier gewesen, und hätte ihn eines Tages ein Schuß aus einem vorbeifahrenden Auto getroffen, und er wäre blutüberströmt auf einer jener Straßen zusammengebrochen, wäre er bereit gewesen zu sterben, um all dem ein Ende zu machen.
Tatsächlich hatte sein Leben eine Wende genommen, als er eines Nachts unter Müll begraben in der Gosse gelandet war. Er lebte noch, und aus Gründen, die er nie verstanden hatte, wollten die Quinns ihn. Sie öffneten ihm tausend neue, faszinierende Türen. Und ganz gleich, wie oft, wie trotzig er versuchte, sie wieder zuzuschlagen, sie ließen es nicht zu.
Sie gaben ihm Chancen, Hoffnung und eine Familie. Sie boten ihm die Möglichkeit, sich eine Bildung anzueignen, die seine Seele gerettet hatte. Nur mit ihrer Hilfe hatte er zu dem Mann werden können, der er jetzt war. Er lernte und arbeitete, und jenen unglücklichen Jungen vergrub er tief in seinem Innern.
Seine Stellung bei Innovations, der besten Werbeagentur in der Stadt, war gefestigt. Niemand zweifelte daran,
daß Phillip Quinn auf dem Weg nach oben war. Und niemand, der diesen Mann kannte, der elegante Maßanzüge trug, der ein Essen in vollendetem Französisch bestellen konnte und ein Weinkenner war, würde sich vorstellen können, daß er früher einmal seinen Körper für einen Beutel mit Kleingeld verkauft hatte.
Er war stolz auf seinen Erfolg, vielleicht zu stolz, aber er betrachtete ihn als seinen Dank an die Quinns.
In ihm steckte noch genug von jenem selbstsüchtigen, egoistischen Jungen, der bei dem Gedanken, auch nur einen Zentimeter von dem Erreichten aufzugeben, rebellierte. Aber andererseits war er auch der Mann, den Ray und Stella geformt hatten und der immer auch andere Möglichkeiten in Betracht zog. Irgendwie mußte er einen Kompromiß finden.
Er drehte sich um und blickte auf das Haus. Das obere Stockwerk war dunkel. Seth war wohl schon im Bett, überlegte Phillip. Er hatte keine Ahnung, was er dem Jungen gegenüber empfand. Er durchschaute ihn, verstand ihn, und vermutlich fühlte er sich auch abgestoßen von den Eigenschaften, die der junge Seth DeLauter mit seinem früheren Ich gemeinsam hatte.
War er Ray Quinns Sohn?
Sein Widerwille wuchs, dachte Phillip und biß die Zähne zusammen, wenn er auch nur die Möglichkeit in Erwägung zog. War der Mann, den er mehr als sein halbes Leben lang geradezu vergöttert hatte, tatsächlich von seinem Sockel gestürzt, war er der Versuchung erlegen, hatte er Frau und Familie verraten?
Und falls ja, wie hatte er sich von seinem eigenen Fleisch und Blut abwenden können? Wie hatte dieser Mann, der fremde
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