Tief im Herzen: Roman (German Edition)
daß die Welt ihn mal konnte. Was er jetzt brauchte, so dachte er, war ein fahrbarer Untersatz.
Er fuhr als blinder Passagier im Güterzug nach Baltimore. Er wußte nicht, wohin der Zug fuhr, und es war ihm auch egal. Er wollte nur weit weg. Im Dunkeln zusammengekauert, von jedem Stoß bis ins Mark durchgerüttelt, schwor er sich, sich eher umzubringen oder umbringen zu lassen als zurückzugehen.
Als er sich aus dem Zug stahl, roch er Wasser und Fisch und wünschte inständig, er hätte daran gedacht, sich irgendwo Proviant zu beschaffen. Sein Magen knurrte. Ihm war schwindelig, und er war verwirrt, doch er marschierte los.
Hier gab es nicht viel zu sehen. Er befand sich in einer verschlafenen Kleinstadt, in der nachts die Gehsteige hochgeklappt wurden, in der Boote gegen durchhängende Docks schlugen. Hätte er klar denken können, dann hätte er vielleicht den Plan gefaßt, in einen der Läden an der Uferpromenade einzubrechen, aber dieser Gedanke kam
ihm erst, als er die Stadt bereits hinter sich gelassen hatte und sich auf Marschland wiederfand.
Die Schatten und Geräusche der Marsch waren ihm unheimlich. Die Sonne erschien am östlichen Horizont und tauchte die sumpfige Ebene und das hohe, feuchte Gras in goldenes Licht. Ein großer weißer Vogel schwang sich empor, bei dessen Anblick sich Cams Herz weitete. Er hatte noch nie zuvor einen Reiher gesehen, er kam ihm fast unwirklich vor. Aber der Vogel schlug mit den Flügeln und stieg hoch in die Luft auf. Aus einem unerfindlichen Grund folgte Cam ihm entlang der Marsch, bis er zwischen dichten Bäumen verschwand.
Er verlor den Überblick, wie weit und in welche Richtung er gegangen war, aber sein Instinkt sagte ihm, daß er sich an die schmale Landstraße halten sollte, wo er sich leicht im hohen Gras oder hinter einem Baum verstecken konnte, falls ein Streifenwagen vorbeikam.
Er mußte einen Schlupfwinkel finden, einen Ort, an dem er sich zusammenrollen und schlafen, das unangenehme Ziehen des Hungers und die Übelkeit vergessen konnte. Als die Sonne höher stieg, fiel ihm wegen der Hitze das Atmen schwerer. Das Hemd klebte ihm am Rücken, und seine Füße begannen zu schwitzen.
Den Wagen sah er zuerst, einen strahlend weißen Corvette, ein Bild von Kraft und Eleganz, der wie ein Schatz im dunstigen Licht der Morgendämmerung glitzerte. Daneben war ein Lieferwagen abgestellt, verrostet, verkratzt, fast schäbig verglichen mit der arroganten Raffinesse des Sportwagens.
Cam kauerte sich hinter einen blühenden Hortensienstrauch und betrachtete ihn. Begehrte ihn.
Mit diesem Ding würde er bis nach Mexiko kommen, ja, an jeden Ort, zu dem er wollte. Scheiße, bei der Leistung, die diese Maschine brachte, hätte er die Hälfte des Weges zurückgelegt, bevor noch jemand merkte, daß er ausgerückt war.
Er verlagerte sein Gewicht, blinzelte heftig, um klarer
sehen zu können, und starrte auf das Haus. Es verblüffte ihn immer wieder, welch geordnetes Leben andere Leute führten. Sie wohnten in blitzsauberen Häusern mit gestrichenen Fensterläden, Blumen und gestutzten Sträuchern im Hof. Das Haus erschien ihm riesig, ein moderner weißer Palast.
Anscheinend waren die Leute reich, dachte er, und Ärger wallte in ihm auf, der zusammen mit dem Hunger an ihm nagte. Solche Leute konnten sich feine Häuser und feine Autos leisten und führten ein geruhsames Leben. Und ein Teil von ihm, der Teil, genährt von dem Mann, der von Haß und Budweiser lebte, wollte zerstören, die Sträucher plattwalzen, all die funkelnden Fenster einschlagen und das hübsch gestrichene Holz zertrümmern.
Er wollte ihnen wehtun, weil sie alles hatten, während er gar nichts besaß. Doch als er sich aufrichtete, verwandelte sich sein bitterer Zorn in Schwindel und Benommenheit. Er drängte seine Gefühle zurück, biß die Zähne zusammen, bis sie schmerzten, doch zumindest wurde sein Kopf wieder klar.
Sollen die reichen Mistkerle ruhig weiterschlafen, dachte er. Er würde sie nur um den heißen Schlitten erleichtern. Der war nicht mal abgeschlossen, stellte er fest und lachte über ihre Dummheit, als er die Tür aufzog. Eine der wenigen nützlichen Fähigkeiten, die sein Vater ihm mitgegeben hatte, war, einen Wagen schnell und geräuschlos kurzzuschließen. Diese Fähigkeit erwies sich als sehr praktisch, wenn man seinen Lebensunterhalt zu einem großen Teil damit verdiente, gestohlene Autos an Hehler zu verscherbeln.
Cam kroch unters Lenkrad und machte sich an die Arbeit.
»Es
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