Tochter des Glueck
vernünftig werden und nach Hause wollen. Jetzt wird sie nie mehr von hier weggehen, und das bedeutet, dass ich auch nicht mehr wegkann. Meine Tochter ist hier. Mein Enkelkind wird hier im Herbst geboren werden. Zum ersten Mal erscheint mir die Aussicht, den Rest meines Lebens in China zu verbringen, nicht mehr ganz so schlimm.
Ich falte den Brief zusammen, stecke ihn in einen Umschlag und räuspere mich. Die Mieter blicken auf. »Meine Tochter bekommt ein Baby. Ich werde Großmutter.«
Ihre guten Wünschen und Gratulationen schwappen über mir zusammen. Ich bin sehr glücklich.
Am nächsten Tag gehe ich auf die Polizeiwache. Nachdem ich lange gewartet habe, führt man mich in das Büro von Inspektor Wu. »Heute ist gar nicht unser üblicher Termin«, sagt er, als er mich sieht.
»Ich weiß, aber ich hoffe, du kannst mir helfen, Genosse. Ich würde gerne meine Tochter besuchen.«
Er kippt seinen Stuhl zurück. »Ah, ja, die Tochter, von der du mir leider nichts erzählt hast, als du nach Shanghai gekommen bist.«
»Ich habe mich bereits dafür entschuldigt, aber ich wusste nicht, wo sie war, deshalb gab es für mich nichts zu berichten.«
»Und jetzt willst du sie besuchen. Aber leider stellt die Regierung im Moment keine Reisegenehmigungen auf das Land aus.«
»Und wenn ich zur Kommission für Belange von Überseechinesen gehe? Du hast mir zuvor gesagt, dass ich als zurückkehrende Überseechinesin reisen darf, wohin ich will, solange ich dich vorher frage.«
Er wirft die Hände hoch. »Die Dinge ändern sich.«
»Meine Tochter bekommt ein Baby …«
»Ich gratuliere. Ich hoffe, es wird ein Enkelsohn.«
Mittlerweile kenne ich diesen Mann schon länger. Er wurde vom Inspektor dritter Klasse zum Inspektor zweiter Klasse befördert. Seit unserer ersten Begegnung ist er ein bisschen aufgetaut, aber er hält sich immer noch pedantisch an die Regeln. Er würde niemals ein Schmiergeld annehmen, und er würde dafür sorgen, dass ich bestraft werde, wenn ich ihm welches anbieten würde. Ihm ist also klar, als ich meine Frage stelle, dass ich eine praktische Antwort erwarte.
»Was muss ich tun, um eine Reiseerlaubnis zu bekommen?«
»Geh zu deinem Blockkomitee. Wenn du eine schriftliche Befürwortung bekommst, könnte ich dir vielleicht helfen. Aber hör genau zu, Genossin: Könnte.«
Trotz seiner Vorwarnung verlasse ich die Polizeiwache voller Optimismus. Koch ist der Direktor unseres Hauses und besitzt im Blockkomitee viel Einfluss. Bestimmt sorgt er dafür, dass ich eine positive Empfehlung bekomme.
Doch es kommt völlig anders. Die beiden ehemaligen Tänzerinnen beschuldigen mich, eine heimliche Kapitalistin zu sein. »Sie bewahrt Überreste ihrer dekadenten Vergangenheit bei sich im Zimmer auf«, erzählt eine von ihnen unseren Nachbarn. »Sie bringt Plakate von sich und ihrer Schwester aus vergangenen Zeiten mit nach Hause.«
»Sogar kleine Stückchen – ein Auge oder einen Finger«, fügt ihre Zimmergenossin hinzu.
Das verblüfft mich, denn es bedeutet, dass sie in meinem Zimmer waren, als ich nicht zu Hause war. Was haben sie noch gefunden?
»Sie trägt Kleider aus der Zeit vor der Befreiung«, steuert der Schuster bei. »Sie zieht sie an, wenn sie einem unserer Mieter Englischunterricht gibt!«
»Und sie versteckt Essen«, fällt die Witwe ein. »Sie teilt nur mit uns, wenn es ihr passt.«
Für meine Begriffe habe ich nichts Unrechtes getan. Immerhin gehört es zu meiner Arbeit, Plakate von Wänden abzureißen, ich trage meine alten Kleider aus Sparsamkeit auf, ich unterrichte Dun, weil er mich darum gebeten hat, und ich teile mein Essen, um eine gute Genossin zu sein. Ich habe gehört, dass andere sich verteidigen, wenn sie kritisiert werden, weil sie sich für unschuldig oder für moralisch, ethisch oder politisch im Recht halten. Auch ich möchte mich gerne verteidigen, aber das wird mir nicht helfen, eine Reiseerlaubnis zu bekommen, um meine Tochter zu besuchen.
Gemäß der Parole »Nachsicht gegenüber denen, die gestehen« beeile ich mich, alles zu offenbaren: »Ich habe in einem imperialistischen Land gelebt, ich bin zu sehr an die schwache westliche Lebensart gewöhnt, und meine Familie war schlecht.« Das scheint sie einigermaßen zufriedenzustellen, doch ich bin sicher, ich werde wieder kritisiert werden. So besorgt ich um Joy auch bin, ich bin froh, dass sie auf dem Land ist, wo man sie mag, wie sie ist, und sie nicht wegen ihrer Herkunft unter Verdacht steht.
Natürlich wird
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