Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
Vorwort
Dieses E-Book versammelt 44 Berliner Szenen & eine Zugabe – zumeist Texte, die ich in den “Nuller Jahren” so oder in ähnlicher Form für den Kulturteil der Berliner taz geschrieben habe. Mit nur 58 Zeilen gehören die “Berliner Szenen” zu den kürzesten Formaten der ja ohnehin nicht allzu geschwätzigen taz. Solche Kolumnen sind schnell geschrieben und werden ebenso schnell konsumiert. Viel verdienen kann man mit diesen Texten nicht. Auf besonders viele Leser darf man ebenfalls nicht hoffen, denn die meisten taz-Abonnenten leben außerhalb Berlins, wo die taz fast überall nur aus dem Mantelteil besteht.
Trotzdem üben die Berliner Szenen auch auf ihre Autoren einen merkwürdigen Reiz aus. Vielleicht, weil nirgendwo sonst der Funke des wirklichen Lebens so direkt überspringt wie hier. Die Szenen spielen auf der Straße, in der S-Bahn, beim Schrippenbäcker, in der Ambulanz oder auch mal auf dem Friedhof. Es sind einzelne Perlen aus jener Kette von zufälligen Ereignissen, aus denen sich das Leben (nicht nur) in der Großstadt eben zusammensetzt.
Manche dieser “scenes of anecdotal life” haben eine Pointe, manche haben keine. Einige vermengen erfundene Elemente mit tatsächlichen Erlebnissen, andere wiederum sind von vornherein nur typische Berliner Simulationen. So subjektiv wie die Perspektive ist, kann zwangsläufig nicht jede Szene Gefallen finden. Manche Plots erschließen sich auch beim erneuten Lesen nicht wirklich. Das haben die Szenen wohl mit ihrer Quelle, dem Leben selbst, gemeinsam. An der Grenzfläche zwischen Sinn und Unsinn entsteht im Idealfall etwas, das man die Poesie des Alltags nennen könnte.
Die hier versammelten 44 Berliner Szenen sind in den Jahren 2001 bis 2011 entstanden. Viele von ihnen spielen im und um den Prenzlauer Berg, so ungefähr zwischen Schönhauser Allee, Arnimplatz und Mauerpark. Die Orte sind authentisch, viele Anekdoten auch. Doch nicht immer war die Einheit von Ort und Handlung in dieser Form vorgegeben – was u.a. daran liegt, dass ich zwischen 2004 und 2007 einige Semester lang in Gießen an der Lahn gelebt habe. Manche Erlebnisse sind zudem nur ausgeborgt. Als Kolumnenschreiber braucht man nicht nur ein gutes Auge, sondern auch ein gutes Ohr.
Noch ein Wort zur Abfolge: geordnet sind die Szenen in umgekehrter Chronologie, beim Lesen bewegt man sich also von 2011 zurück bis in den Herbst 2001. Zu diesem Zeitpunkt – kurz nach 9/11 – ist auch die Zugabe (“Eisglieder am Dackelrücken”) entstanden. “Erfinde doch am besten eine völlig neuartige Form der Berichterstattung”, gab mir meine euphorische Redakteurin mit auf den Weg. Die bestellte Stilübung im “New Journalism” betraf einen Diavortrag an der Urania zum Thema Polarforschung. Das Endergebnis liest sich vielleicht nicht ganz zufällig wie eine Berliner Szene in XXL.
Berlin im März 2012
Ansgar Warner
Beton im Gemüt
U. ist eher der phlegmatische Typ, ziemlich wortkarg, und betreibt in Vorpommern eine Firma für Wertstoffrecycling. Sein Laden läuft wie von selbst, doch für Problemfälle, die sich nicht wie Autowracks oder Bauschutt maschinell schreddern lassen, hat er kein gutes Händchen. Vor allem, wenn man darüber reden muss. Viele sind deswegen nicht sehr gut auf ihn zu sprechen. „Typisch U.: Totschweigen oder Schreddern“, schimpft etwa F., die mit ihm mal ein paar Semester Kreislaufwirtschaft studiert hat.
Neulich war es mal wieder soweit: „Der U. ist gerade total blockiert, weil er beim Umgraben seines Gartens auf ein Skelett gestoßen ist“, berichtete F., als wir uns beim Eat Organic an der Fleischtheke trafen. „Naja, das kommt ab und zu vor auf dem Land“, wiegelte ich ab, und wollte dann doch wissen: „Was ist es denn, Hund, Katze, Wildschwein!?“ „Nee, eindeutig Homo sapiens“, präzisierte F., „und sogar ziemlich gut erhalten, Becken, Schultern, Schädel, und so“.
Während ich ein sehniges Nackenstück in der Auslage betrachtete, dachte ich mir: Eine echte Überraschung konnte der Knochenmann im Gemüsebeet des Müllverwerters eigentlich nicht sein. Schließlich wohnt er direkt neben einem Friedhof: „Na sagt er nicht selbst immer, Grenzverläufe ändern sich, und dass die Bodenerosion sich einen Dreck um die Totenruhe schert?“ Dem Kind vor mir in der Warteschlange wurde eine Scheibe Gesichtswurst heruntergereicht, und F. kam zum Kern des Problems: „Ich hab ihm ja gleich gesagt, melde das einfach dem Amt für Denkmalpflege als
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