Tochter des Glueck
ein Auto entgegen. Am liebsten würden wir wegrennen. Ich verlangsame meinen Schritt, Joy geht schneller, und Z. G. und Ta-ming – die nicht Kantonesisch sprechen – verschwinden in den Feldern. Das Auto hält neben Joy. Nachdem sie sich hinuntergebeugt und mit dem Fahrer gesprochen hat, zeigt sie nach links. Das Auto kommt zu mir und hält an.
»Wir suchen Unruhestifter«, sagt der Fahrer. »Hast du sie gesehen?«
»Es sind viele Leute unterwegs«, antworte ich. »Woher soll ich wissen, welche davon Unruhestifter sind?«
»Der Mann war gut gekleidet, wie ein Drei-Stift-Kader.«
»Drei-Stift-Kader? Von so jemandem habe ich noch nie gehört. Aber wenn du damit meinst, einer der Männer sehe aus wie unser großer Vorsitzender, nur dünner, dann habe ich ihn und die anderen schon gesehen. Sie sind in diese Richtung gegangen.« Ich zeige nach rechts – in eine völlig andere Richtung als Joy – und hoffe, dass meine zitternde Hand und mein nervöser Schweiß nicht allzu auffällig sind.
Am frühen Abend erreichen wir Yin Bo. Für mich sieht es aus wie jedes andere kleine Dorf – es besteht aus niedrigen, grauen Ziegelhäusern mit Fensteröffnungen ohne Scheiben, und durch die Gassen laufen Schweine, Enten und Hühner. Hier leben vielleicht dreihundert Menschen, womöglich auch weniger. Eine junge Mutter mit einem Baby auf der Hüfte kommt aus ihrer Hütte und starrt uns an. Bald bleiben auch andere – ein paar Kinder, ein junges Mädchen, zwei Bauern mit Heubündeln auf dem Rücken – stehen und beäugen uns.
»Entschuldigung«, sage ich. »Könnt ihr uns helfen? Wir brauchen etwas zu essen und einen Schlafplatz. Mein Name ist Zhen Long – Perldrache. Ich wurde hier geboren. Mein Mädchenname ist Chin. Ihr seid auch Chins. Ich gehöre zu eurer Familie. Wir sind alle miteinander verwandt.« Aber diese Leute sind zu jung, um sich an mich zu erinnern. »Gibt es eine Großmutter oder einen Großvater, mit dem ich reden könnte?«
Mit offenem Mund sehen sie mich an. Niemand möchte das Risiko eingehen, etwas Falsches zu tun.
»Ihr seid Chins. Ich bin eine Chin«, wiederhole ich. »Mein Vater wurde hier geboren. Ich wurde hier geboren. Das sind meine Tochter und meine Enkelin. Ich habe vielleicht noch Onkel oder Tanten, die hier wohnen, die Brüder meines Vaters und ihre Ehefrauen. Ich muss sie sehen.« Als sich niemand rührt, zeige ich auf das junge Mädchen. »Geh zum Dorfvorsteher. Auf der Stelle!«
Dann stehen wir da und warten, während das Mädchen barfuß eine Gasse entlangläuft. Ein paar Minuten später kehrt sie nicht mit einem Mann, sondern mit mehreren Männern zurück – sie sind alle schon älter und drängeln sich nach vorne. Das ist das Heimatdorf meines Vaters, deshalb überrascht es mich nicht, dass die Männer – schließlich sind sie alle Chins – ihm ähnlich sehen. Sie haben seinen etwas krummbeinigen Gang, das fliehende Kinn und die hängenden Schultern.
Als sie näher kommen, eilt einer der Männer voraus. Er ist älter, wahrscheinlich der Dorfvorsteher. Er streckt die Arme aus und ruft: »Pearl?«
Ich schüttle den Kopf, um Erinnerungen loszuwerden, für die im Moment kein Platz ist.
»Pearl, Pearl.«
Der Mann bleibt wenige Meter vor mir stehen. Er ist kleiner als ich. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Er ist auf dem Land gealtert – die Haut ist verwittert und sonnengebräunt –, aber er ist zweifellos mein Vater.
P EARL
Des Schicksals Lauf bringt Glück im Überfluss
B aba?«, frage ich fassungslos. Der Mann vor mir kann doch unmöglich mein Vater sein. Das geht nicht. Aber er ist es. »Ich dachte, du seist tot.«
»Pearl.«
Als Mädchen hat mich mein Vater niemals umarmt, doch jetzt schließt er mich in die Arme und drückt mich fest. Dieses Wiedersehen hätte ich mir in zehntausend Jahren nicht vorstellen können, nicht jetzt, niemals. Es gibt so vieles zu sagen, so viele Fragen, die ich ihm stellen möchte, aber die anderen sind bei mir, und wir befinden uns auf einer verzweifelten Flucht. Widerstrebend löse ich mich von ihm.
»Baba, ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist deine Enkelin Joy. Das Baby ist deine Urenkelin. Und an Z. G. erinnerst du dich bestimmt.«
Mein Vater blickt von einem Gesicht zum anderen. Der Strom seiner Tränen versiegt nicht. Nun weinen auch andere um uns herum. Der Sinn eines Familientreffens besteht nicht darin, Formulare auszufüllen und Genehmigungen zu bekommen. Er besteht hierin. Vier Generationen sind vereint, nach zu
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