Tochter des Glueck
vorherrschend waren, sind verschwunden. Die einzige Ausnahme bilden sowjetische Fachleute oder die wenigen Amerikaner, Franzosen oder Deutschen, die sich – aus purer Dummheit, anders kann ich es nicht bezeichnen – entweder dafür entschieden, in China zu bleiben, als die Grenzen geschlossen wurden, oder alles verließen, was sie im Westen besaßen, um hierherzukommen.
Die Clubs, die ich früher mit May besuchte, sind verschwunden. Wo sind die Taxigirls, die Musiker, die Kellner und die Barkeeper jetzt? Tot, zur Landgewinnung ins Landesinnere verfrachtet, oder sie arbeiten in einer Fabrik wie die ehemaligen Tänzerinnen aus dem Haus meiner Familie. Die Weißrussen, die in der Avenue Joffre lebten, sind ebenfalls verschwunden, allerdings gibt es auch die Avenue Joffre nicht mehr. Sie heißt jetzt Huaihai-Straße, zur Erinnerung an den zweiten großen Feldzug im Jahr 1949, als Maos Soldaten vom Fluss Huai bis ans Meer vorrückten, um Shanghai einzunehmen. Der Race Club an der Avenue Edouard VII in der Internationalen Siedlung, wo mein Vater so viel Geld verlor, wurde in den Platz des Volkes umgewandelt und liegt an der Yen’an-Straße, wie sie nun heißt.
Auf den Gehsteigen liegen keine toten Babys mehr. Früher war dieser Anblick so gewöhnlich, dass ich noch weiß, wie ich an einem, zwei, drei pro Tag vorbeigegangen bin, ohne stehen zu bleiben oder darüber nachzudenken. Ich habe keine Rikschafahrer gesehen und auch keine Bettler, die verhungert oder über Nacht erfroren sind. Der Tod ist dennoch präsent: Ein Mann – wahrscheinlich ein unreformierter Kapitalist – sprang von einem Gebäude, das weit genug vom Bund entfernt ist, sodass dort keine Schutznetze gespannt wurden, und ein anderer Mann – bekanntermaßen »beourgeoises Ungeziefer« – wurde von seinen früheren Angestellten mitten auf der Straße zu Tode geprügelt.
Früher zierten die Prostituierten die Stadt wie Blumen. Heute kleiden sich die Leute so gleichförmig und unauffällig – Hosen, Hemden, graue Kappen –, dass man manchmal gar nicht weiß, ob es ein Mann ist oder eine Frau. Überraschenderweise hängen allerdings in den Schaufenstern immer noch Kleider im westlichen Stil – Überbleibsel aus besseren Zeiten. In Läden habe ich Pond’s Creme und Lippenstift von Revlon entdeckt. Die Sachen sind abgelaufen und werden nicht aufgefüllt, aber ich kaufe sie immer, wenn ich sie sehe, denn vielleicht bekomme ich keine weitere Gelegenheit dazu. Wenn sie mir ausgehen, muss ich russische Toilettenartikel benutzen, die allerdings manchmal scheußlich riechen.
Wie kommt es, dass ich nostalgische Gefühle für Prostituierte und Bettler empfinde? Aber ich vermisse einfach alles – die schnurrenden ausländischen Wagen, die eleganten Herren mit ihren maßgeschneiderten Anzügen und den kecken Hüten, das Gelächter, den Champagner, das Geld, die Ausländer, den Duft der französischen und russischen Bäckereien und schließlich einfach den Spaß, in einer der großartigsten Städte dieses Planeten zu leben. Ich wünschte, ich hätte meine Kamera mitgebracht, damit ich May Fotos schicken könnte. Ich könnte das niemals so lebhaft oder glaubwürdig darstellen, wie sie es mit ihren Augen wahrnehmen würde.
Nicht verschwunden allerdings sind die Ratten. Sie sind überall. Eines verstehe ich nicht: Das alte Shanghai, mein Shanghai, hatte viel Sünde an der Oberfläche, aber darunter befand sich dank der Ehrbarkeit der Bankgeschäfte und des Reichtums durch den Handel stets ein festes Fundament. Nun sehe ich die sogenannte Ehrbarkeit des Kommunismus an der Oberfläche, und darunter liegt der Verfall. Sie können fegen, abreißen und wegkarren, so viel sie wollen, doch das ändert alles nichts an der Tatsache, dass meine Heimatstadt verrottet, verfault und sich in ein Skelett verwandelt. Irgendwann sind nur noch Staub und Erinnerungen übrig.
Wie gewöhnlich finde ich auf der mir zugeteilten Strecke kleine Stückchen von May und mir. Ich weiß nicht, ob andere Papiersammler diese Werbeplakate an den Wänden einfach ignoriert haben oder ob sie noch nicht bis zu diesen Straßen und Gassen vorgedrungen sind, aber es ist ein merkwürdiges Gefühl, unsere Nasen, unsere lächelnden Gesichter, adretten Frisuren oder die Kleider abzureißen. Diese kleinen Fetzen – manchmal ist es nur ein Auge oder ein Finger – stecke ich in meine Tasche. Es gelingt mir, ein Plakat im Ganzen abzureißen. Ich rolle es zusammen und verberge es unter meiner Jacke. Am Ende
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