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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Ming-Dynastie haben die Maler die Technik perfektioniert, genau dasselbe Bambusblatt immer wieder zu malen.«
    Das ist richtig. Er lässt mich immer noch Bambuszweige malen, genau wie am Abend unserer Ankunft. Ich verstehe nicht, warum, in Anbetracht dessen, was er sonst über meine Bilder sagt.
    »Die Künstler der Ming-Dynastie haben versucht, mit ihren einfachen Strichen das Wesen des Bambus wiederzugeben«, fährt er fort. »Jetzt seht euch an, wie meine Tochter den Bambus gemalt hat, der den Pavillon der Wohltätigkeit umgibt. Das ist hübsch, aber seht einmal genauer hin. Ihre Striche sagen nichts aus. Ich habe sie angewiesen, sich selbst völlig zurückzunehmen, um den Kern ihrer Gefühle zu finden.«

P EARL
    Staub und Erinnerungen
    M ein Tag beginnt um halb sieben Uhr morgens. Rhythmisches Stampfen weckt mich – die Mieter machen ihre Turnübungen zu einer Radiosendung, die alle jeden Tag anhören und bei der sie mitmachen sollen. Bis ich angezogen und nach unten gegangen bin, sind die Mieter schon in der Küche und streiten sich wie gewöhnlich um den Platz dort.
    »Jetzt bin ich dran am Herd«, schnauzt eine Tänzerin die Polizistenwitwe an.
    Die Witwe versucht es mit Vernunft. »Ich möchte mein Teigbällchen doch nur neben deinen Topf legen. Dann wird es von der Hitze des Ofens warm.«
    »Du kennst die Regeln. Geh weg da!«
    Die Witwe weicht zurück und rempelt dabei den Schuster an. Ein bisschen von seinem Reisbrei schwappt auf den Boden, und er schreit: »Heh! Pass doch auf, du fetter Wasserbüffel!«
    »Was brüllst du mich an!«, keift die Witwe. »Du bist doch schuld daran. In der Neuen Gesellschaft muss jeder Platz machen.«
    Der Schuster grummelt, dann setzt er die Schale wieder an die Lippen und schlürft laut. Mit der anderen Hand kratzt er sich am Hintern. Niemand macht Anstalten, den weißen Fleck vom Boden aufzuwischen. Allerdings sieht es so aus, als hätte seit der Befreiung niemand mehr den Boden geputzt, vielleicht sogar noch länger nicht. Ich erhebe mich von meinem Platz am Tisch, schütte etwas heißes Wasser von der Thermoskanne auf ein Tuch und wische den Brei auf. Schichten von Schmutz lösen sich, und darunter kommt das Muster der Fliesen zum Vorschein, die an zersprungenes Eis erinnern und die meine Mutter so geliebt hat. Tausende fettiger Mahlzeiten, gekocht von den vielen Menschen, die im Haus meiner Familie leben, und vielleicht wurde nicht ein einziges Mal gewischt, doch die schöne Fliese ist noch da. Ich falte das Tuch zusammen und schrubbe meine saubere Stelle noch etwas mehr frei. Das frühmorgendliche Gezänk lässt nach, und es wird still im Raum. Sechs Augenpaare starren mich an: die Polizistenwitwe voller Verachtung, der Schuster voll Zorn, die beiden Tänzerinnen amüsiert, Koch besorgt und der Professor teilnahmsvoll. Ich stehe auf, wasche das Tuch aus und kehre zu meiner Tasse Tee zurück.
    Nach dem Frühstück steige ich die Treppe wieder hinauf. Bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, dass der Teppich wahrscheinlich nicht gesäubert wurde, seit May, meine Mutter und ich das Haus verlassen haben. Ich gehe in mein Zimmer und schließe die Tür. Dann putze ich mir die Zähne, binde mir einen Schal um die Haare, schiebe meinen Jadearmreif hoch, bis er von selbst hält, ziehe eine leichte Jacke über, gehe wieder hinunter und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Niemand verabschiedet sich von mir oder wünscht mir einen schönen Tag. So geht das nun seit sechs Wochen. An manchen Tagen zweifle ich, ob Z. G. und Joy überhaupt nach Shanghai zurückkehren oder ob ich jemals von May hören werde. Einmal pro Woche habe ich meiner Schwester geschrieben, aber noch keine Antwort erhalten. Hat sie meine Briefe überhaupt bekommen? Oder hat der Mann vom Familienverband nur Unsinn geredet, als er behauptete, meine Schwester und ich könnten uns über ihn und Louie Yun im Dorf Wah Hong Post zuschicken? Mir bleibt nichts anders übrig, als zu warten, von einem Tag auf den anderen.
    Heute ist der Oktoberhimmel blau, und die Luft ist klar. Die Kakiverkäufer des Herbstes haben die Wassermelonenmänner des Spätsommers ersetzt. Ein Händler mit hoher, dünner Stimme preist seine in Lebertran gebratenen Küchlein aus Rettich und Kohl an. Ein Tofuhersteller schiebt einen Holzkarren vor sich her und singt ein Loblied auf seine vollkommenen kleinen weißen Würfel. Die Frauen verbringen – selbst in der Neuen Gesellschaft – mindestens drei Stunden pro Tag damit, Essen zuzubereiten, auf

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