Tod in der Walpurgisnacht
eigenem Wunsch gewählt. Somit hatte sie also mehr oder weniger um diese Entdeckung gebettelt und stolperte jetzt gleich zu Anfang darüber. Wahrscheinlich hatte sie sich eingebildet, dass es leichter wäre, unschuldig zu sein, zufällig etwas zu finden, als aktiv danach zu suchen.
Ihr schwirrte der Kopf. Doch mit ihrem Kopf war alles in Ordnung, das hatte sie schon oft gehört, und was ansonsten an ihr vielleicht nicht in Ordnung sein könnte, damit wollte sie sich gar nicht befassen. Jetzt saß sie jedenfalls hier und zitterte, hatte Angst vor dem Inhalt dieser Mappe und davor, dass ihr Dasein wieder auf den Kopf gestellt werden könnte.
Wieder und wieder schluckte sie, aber es half nichts.
Es war nie darum gegangen, sich zwischen Vergessen oder Erinnern zu entscheiden, diese Freiheit hatte sie nie gehabt. Um groß werden zu können, hatte sie sich geweigert sich zu erinnern.
Wenn sie irgendetwas in ihrer Ausbildung gelernt hatte, dann, dass ein Kind nicht alle schrecklichen Dinge oder Traumata in sich bewahren kann. Ein Kind sortiert aus. Deshalb hatte sie sich clean gemacht und abweisend gegen alles, was sie sonst verbrannt hätte. Rein intellektuell hatte sie das später im Seminar über Pädiatrische Psychosomatik gelernt. Es war also nichts, was sie bewusst geübt hatte, sondern ein eingebauter Schutzmechanismus.
Und es hatte ausgezeichnet funktioniert, da niemand mit ihr geredet hatte, weder damals, als das alles geschah, noch später. Die Erwachsenen hatten eine Glocke des Schweigens um alles gelegt, was mit ihrer Mutter zu tun hatte. Nicht nur ihre Mutter, auch ihr Vater war von demselben Schweigen umgeben. Kinder sollen durch Unwissen und Schweigen geschont werden.
Was im Schnee versteckt wird, im Tauwetter sich offenbart, dachte Hilda. Es war eine Weile vergangen, sie konnte nicht sagen, ob Minuten oder Sekunden. Mutter war nicht alt gewesen, als sie starb, aber das hatte sie natürlich schon immer gewusst. Nur ein paar Jahre älter als sie selbst jetzt war.
Nun lag die Wahrheit vor ihr. Sie hatte gehört, dass ihre Mutter eine Blutvergiftung gehabt hatte, gegen die die Ärzte nichts hatten ausrichten können. So ein junger Mensch, sagte man in mitleidvollem Ton und mit schief gelegtem Kopf.
Gift im Blut – was könnte erschreckender sein? Kein Penicillin sprach an. Sie erinnerte sich an die schmalen, ernsten Lippen der Nachbarin und an die Hand, die ihr übers Haar strich. Mariana hieß sie. Mariana Skoglund, sie hatte auch in der Glashütte gearbeitet, wie Mama.
Während ihres Studiums hatte sie einige Male einen starken Impuls verspürt herauszubekommen, welcher Mikroorganismus es genau gewesen war, der ihre Mutter heimgesucht hatte, so dass sie einen derart ernsten septischen Schock entwickelt hatte, dass sie daran gestorben war. Sie hatte erwogen, einen Arzt zu bitten, ihr die Krankenakte zu besorgen, sie zu lesen und zu erklären. Sie selbst durfte die Akte nicht bestellen, denn es war die der Mutter und nicht ihre eigene. Die Schweigepflicht galt auch nach dem Tod. Aber der Impuls verging wieder. Es war nicht eilig.
Jetzt lag die Akte vor ihr. Verdammt! Sie biss sich auf die Unterlippe. Ganz fest biss sie, bis sie anfing zu bluten und sie die Lippe mit dem Handrücken abwischen musste. Als das nicht reichte, kramte sie ein Papiertaschentuch aus dem Rucksack und drückte es auf die Lippe. Die andere Handfläche legte sie derweil behutsam auf die Mappe, um sich zu versichern, dass das alles nicht nur Einbildung war.
Zur Sicherheit kontrollierte sie noch einmal die Personennummer. Auch die vier letzten Ziffern bestätigten, dass es sich um ihre Mutter handelte. Sie begannen mit einer 29, und das stimmte damit überein, dass die Mutter im Bezirk Kalmar geboren war. Diese Ziffern für den Geburtsbezirk wurden inzwischen nicht mehr verwendet. Die dritte Ziffer war natürlich gerade, eine Vier, da es sich um eine Frau handelte. Männer hatten an dieser Stelle eine ungerade Zahl. Die vierte Ziffer war eine Kontrollziffer, die nach einer gewissen Formel errechnet wurde, die sie nicht interessierte.
Der Bericht war mit einer losen Klammer zusammengefügt, die durch die vorgefertigten Löcher gezogen war. Ganz vorn auf der Übersicht, wo Operationen und andere Krankenhausaufenthalte aufgeführt waren, gab es zwei Eintragungen. Der Bericht galt ausschließlich für die Chirurgische Klinik. Wenn sie wissen wollte, ob ihre Mutter in anderen Kliniken und in ambulanter Pflege gewesen war, dann musste
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