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Todesmelodie

Todesmelodie

Titel: Todesmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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künstlerischen Leistungen zählen hier nicht. Sharon McKay ist eine Mörderin, und zwar eine Mörderin der schlimmsten Sorte; denn sie hat eine Freundin ermordet, eine Freundin, die ihr im Innersten vertraute.«
    Die Staatsanwältin hielt inne und blickte Sharon jetzt direkt an. Dann hob sie die Stimme und wandte sich nicht nur an die Jury, sondern an den ganzen Saal: »Das Volk wird den Beweis führen, daß Sharon McKay am Abend des siebzehnten Juni, also vor fast einem Monat, Ann Rice mit voller Absicht von einer hundertfünfzig Meter hohen Klippe in den Tod gestoßen hat. Außerdem werden wir beweisen, daß diese Tat vorausgeplant war und deshalb als Mord angesehen werden muß. Wir werden mehrere Zeugen dieser verabscheuungswürdigen Tat beibringen und nicht den Schatten eines Zweifels daran lassen, daß Sharon McKay eine Mörderin ist.«
    Sharon fühlte sich zutiefst verletzt. Sie hätte nicht einmal dann jemanden umbringen können, wenn sie nur dadurch ihr eigenes Leben hätte retten können. Sie hatte das Gefühl, immer tiefer in ihren Sessel zu sinken, obwohl sie genau wußte, daß sie absolut stocksteif dasaß und den Atem anhielt.
    John lehnte sich zu ihr herüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Entspann dich, Mädchen! Das ist doch alles nur Theaterdonner! Und außerdem hat sie mit ihrem komischen Gerede schon die halbe Jury verloren!«
    Sharon schluckte und nickte schwach. Aber sie schämte sich jetzt, die Geschworenen anzusehen, obwohl sie doch gar nichts getan hatte! Und außerdem ärgerte es sie, daß sie sich so leicht nervös machen ließ.
    Margaret Hanover warf ihr einen Blick zu, während sie wieder zu ihrem Platz zurückging.
    Jetzt war John an der Reihe. Er sprang voller Eifer auf wie ein Musterschüler im Mathematikunterricht, der gerade zur Tafel befohlen worden war, um eine simple Aufgabe vorzurechnen. Er ging nicht direkt zur Geschworenenbank hinüber, sondern schlenderte scheinbar absichtslos bis zum Ende der Barriere, die die Jury vom Zuschauerraum trennte.
    Dort legte er eine Hand leicht auf das hölzerne Geländer, rieb mit der andern sein markantes Kinn und überlegte, so schien es, mit gesenktem Kopf, welche der zahllosen Möglichkeiten er wählen sollte, um die lächerlichen Anschuldigungen der Staatsanwältin zurückzuweisen.
    Er blieb einige Zeit so stehen, ohne etwas zu sagen. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden war ihm sicher. Plötzlich klatschte er in die Hände, und alle fuhren zusammen. »Sharon hat Ann nicht getötet«, verkündete er. »Warum hätte sie so etwas tun sollen? Sie waren dicke Freundinnen! Die ganze Idee ist vollkommen absurd. Es gibt kein Motiv, keine Zeugen; dieser Fall hätte nie vor Gericht kommen dürfen. Aber wir befinden uns in einem Wahljahr, da machen sich solche Sensationsprozesse natürlich gut.« John hielt einen Moment inne und lächelte beruhigend. »Ich mache mir keine Sorgen um Sharon, weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß die Wahrheit sich am Ende immer gegen die Lüge durchsetzt. Keine Angst, Leute – eure Entscheidung wird nicht schwierig sein!«
    Das war alles, was John sagte. Er kehrte auf seinen Platz zurück und setzte sich. Sharon war tief beeindruckt, denn die Mitglieder der Jury tauschten untereinander Blicke aus, wie es Mitglieder einer Gruppe taten, und starrten nicht mehr je der vor sich hin wie Einzelwesen. Sie schienen John zu mögen – vielleicht würden sie sie auch mögen?
    Die Anklage rief Chad Lear in den Zeugenstand. Chad war für Sharon ein großes Fragezeichen. Während sie sich auf den Prozeß vorbereitet hatte, hatte John sie gefragt ob Chad gegen sie aussagen würde. Sie hatte ihm geantwortet, daß er die Wahrheit sagen würde. Aber sie wußte, was John gemeint hatte: Es gab auch bei der Wahrheit viele Spielarten. Chad war ein alter Freund von ihr, aber er hatte Ann noch länger gekannt. Es konnte sogar sein, daß er in Ann verliebt gewesen war – das wußte sie nicht genau, aber sein Anblick, als er jetzt zum Zeugenstand ging, ließ sie wieder daran denken. Anns Tod hatte ihn offenbar völlig umgeworfen: Chad war immer dünn gewesen, aber jetzt war er nur noch Haut und Knochen. Der Gewichtsverlust betonte seine hervorspringende Nase und seine großen, feuchten Augen. Er hielt den Kopf während der Vereidigung gesenkt und blickte erst auf, als Margaret Hanover neben ihn trat und ihre erste Frage stellte. Aber als Chad schließlich den Kopf hob, sah er Sharon an. Er lächelte schwach, und es war ein sehr trauriges

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