Vergeltung
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D ie Kunst des Ausbrechens hatte etwas von Taschenspielerei. Das Geheimnis lag in der Irreführung. Manchmal gelang eine Flucht, indem mit Hilfe sorgfältiger Planung etwas Falsches vorgespiegelt wurde; manchmal kam es auf Manöver an, die körperliche und intellektuelle Kraft, Mut und Beweglichkeit erforderten; und manchmal wirkte das alles zusammen. Aber wie man auch vorging, das Element der Täuschung spielte stets eine entscheidende Rolle. Und wenn es auf Irreführung ankam, gab es niemanden, der besser war als er. Die beste Täuschung war die, die andere überhaupt nicht mitbekamen. Das gelang nur, wenn die Ablenkung sich nahtlos in den Ablauf einfügte.
An manchen Orten ist das schwieriger als an anderen. Zum Beispiel hätte man Mühe, in einem Büro, in dem alles wie in einem Uhrwerk durchorganisiert ist, die Ablenkung zu integrieren, weil alles vom Normalen Abweichende auffiele und in Erinnerung bliebe. Aber im Gefängnis gibt es so viele variable Größen – unberechenbare Individuen, komplexe Machtstrukturen, triviale Streitereien, die in Sekunden eskalieren können, und unterdrückte Frustration, die immer kurz vor dem Aufbrechen ist wie ein reifes Furunkel. Fast alles könnte jederzeit zu einem Konflikt führen, und wer könnte schon sagen, ob die Sache eingefädelt oder einfach eines der hundert kleinen Probleme war, das außer Kontrolle geriet? Schon allein die Tatsache, dass es solche Variablen gab, machte manche Leute nervös.
Ihn ließ das völlig kalt. Für ihn stellte jede vorstellbare Alternative einen neuen Ansatzpunkt dar, eine weitere Option, die es eingehend zu prüfen galt, bis er endlich die perfekte Kombination von Ausgangsbedingungen und Persönlichkeiten gefunden hatte.
Er hatte überlegt, ob er eine Show abziehen sollte. Er hätte ein paar Jungs dafür bezahlen können, eine Schlägerei in seinem Trakt zu inszenieren. Aber das hatte zu viele Nachteile. Zunächst mal: Je mehr Leute seine Pläne kannten, desto wahrscheinlicher war es, dass jemand plauderte. Außerdem saßen die meisten dort ein, weil sie mit ihren früheren Täuschungsversuchen jämmerlich gescheitert waren. Keine gute Grundvoraussetzung für ein überzeugendes Ablenkungsmanöver. Und man konnte natürlich auch ganz gewöhnliche Dummheit niemals ausschließen. Diese Variante fiel also schon einmal weg.
Das Schöne am Gefängnis war jedoch, dass es jede Menge Druckmittel gab. Die Gefangenen fürchteten sich vor dem, was draußen geschehen konnte. Sie hatten Freundinnen, Frauen, Kinder und Eltern, die misshandelt oder verführt werden konnten. Manchmal reichte es schon, dies anzudrohen.
Also hatte er die Lage beobachtet und gewartet, hatte Informationen gesammelt, sie ausgewertet und ausgetüftelt, wo sich die besten Erfolgschancen boten. Es war hilfreich, dass er sich nicht nur auf seine eigenen Beobachtungen verlassen musste. Sein Netzwerk außerhalb der Gefängnismauern hatte ihm die Informationen verschafft, mit denen er die meisten seiner Wissenslücken schließen konnte. Es hatte gar nicht lange gedauert, bis er den perfekten Punkt fand, an dem er den Hebel ansetzen konnte.
Und jetzt war er so weit. Heute Abend würde er handeln. Morgen Abend würde er in einem herrlich breiten Bett mit weichen Kissen schlafen. Das perfekte Ende eines wundervollen Abends. Ein nur zart angebratenes Steak mit Knoblauch, Pilzen und Rösti, abgerundet mit einer Flasche Rotwein, der in den zwölf Jahren seiner Abwesenheit bestimmt nur noch besser geworden war. Ein Teller mit Kräckern und einem köstlichen Stilton, der ihn vergessen ließ, was man im Gefängnis als Käse bezeichnete. Dann ein langes heißes Bad, ein Glas Cognac und eine kubanische Cohiba. Er würde jede Spielart des sinnlichen Genusses auskosten.
Sein Wachtraum wurde von lauten Stimmen unterbrochen; es war eine alltägliche Auseinandersetzung über Fußball, die zwischen den Stockwerken widerhallte. Ein Wärter brüllte, sie sollten leiser sein, und der Geräuschpegel senkte sich etwas. Das entfernte Gemurmel aus einem Radio füllte die Pausen zwischen den Flüchen, und er erkannte, noch besser als das Steak, der Alkohol und die Zigarre würde die Befreiung vom Lärm anderer Menschen sein.
Wurde über die schrecklichen Zustände im Gefängnis gesprochen, dann fiel das meistens unter den Tisch. Man beschwerte sich über die Einschränkungen, die Unfreiheit, die Angst vor den anderen Gefangenen, den Verlust persönlicher Annehmlichkeiten. Aber selbst die
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