Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
war in der Redaktion völlig abwegig. Das Leben spielte sich jetzt ab. Ruck, zuck Aufgaben verteilt, ein paar Telefonate, mit einem Kameramann zum Schauplatz, Interview gemacht und geschnitten, Meldung eingelesen – alles in Rekordzeit fertig. So war jeder einzelne Arbeitstag. Aber es machte mir einen Riesenspaß.
Zum Glück hatte ich bald eine Woche frei und wollte sie nutzen, um einen Artikel über meine Großmutter zu schreiben, die ich nie kennengelernt hatte. Der Artikel sollte im Herbst in einer Zeitschrift erscheinen, die Geschichte einer Hausfrau in der Nachkriegszeit. Eine wahrhaft tragische Geschichte.
Ich wusste genau, warum ich mich darum bemüht hatte, diesen Artikel schreiben zu dürfen, und ließ meine Gedanken in vergangene Zeiten schweifen.
Ich war ein kleines Mädchen, saß auf einem Gartenstuhl an einem alten Tisch im Garten meines Großvaters auf dem Land, im Bezirk Landeyjar. Der Garten war in der Sommersonne so schön, Großvaters Werkstatt, ein Holzschuppen mit ein paar kleinen Fenstern, in dem auch zusammenklappbare Sonnenstühle und Spielzeug aufbewahrt wurden, ein alter Sattel, alte, ausgeleierte Badmintonschläger und ein Ball. Es war warm, aber ein bisschen windig. Ein Zaun umgab den Garten, der ziemlich verwildert war. Die Rosenzucht war eingegangen, nachdem Lárus seine Frau verloren hatte – Ísbjörg, meine Großmutter.
Wir waren eine Woche lang zu Besuch bei Großvater, meine Eltern waren auch da, machten aber gerade eine Spritztour mit dem Auto. Ich saß alleine im Garten, acht oder neun Jahre alt, als mein alter Großvater mit einer großen Kiste aus dem Haus kam.
»Das sind verschiedene Sachen, die deiner Oma gehörten«, sagte Großvater und schaute mich vielsagend an. »Ich habe die Abstellkammer aufgeräumt und die Kiste gefunden. Dein Vater oder seine Schwestern haben sie eingeräumt, als deine Oma gestorben ist. Am besten, man schmeißt weg, was man wegschmeißen muss.«
Ich war nach meinen beiden Großmüttern benannt – meiner Großmutter väterlicherseits, Ísbjörg, und meiner färöischen Großmutter mütterlicherseits, Hei
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rún. Daraus wurde der Name Ísrún. Oma Ísbjörg war viel zu früh gestorben, mit gerade mal fünfzig. »Deine Oma hat viel zuviel geraucht«, sagte mein Vater immer, »und ist dann an Krebs gestorben.« Ich fing nie an zu rauchen.
Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, Oma Ísbjörg kennenzulernen. Sie starb ein paar Jahre, bevor ich auf die Welt kam. Meine Großeltern auf den Färöern traf ich nur selten, aber Opa Lárus in Landeyjar war immer da. Wir besuchten ihn mehrmals im Jahr und im Winter übernachtete er oft bei uns oder bei den Schwestern meines Vaters in Reykjavík.
Schon früh spürte ich eine starke Verbindung zu Oma Ísbjörg. Viele erzählten, ich sei ihr ähnlich, vom Charakter und vom Aussehen her. Sie war wie ein fernes Trugbild, eine Frau, die ich nie getroffen, mit der ich aber viel gemeinsam hatte. Ich dachte oft daran, wie schön es gewesen wäre, sie gekannt zu haben. Warum hatte der Krebs sie mir weggenommen?
Mein Herz schlug schneller, als Großvater an jenem Sommertag mit der Kiste aus dem Haus kam. Sachen von Großmutter!
Er fing an, darin herumzustöbern, hatte einen Müllsack dabei. Ein paar Rechnungen wanderten in den Müll, und dann war da noch ein altes Notizbuch.
»Ihr Rezeptbuch«, sagte er. »Willst du das vielleicht haben?«
Ich nahm es freudig entgegen, wie eine seltene Kostbarkeit. Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, verwahre ich dieses Rezeptbuch in meiner Küche auf und benutze es oft.
Dann kam aus der Kiste das Tagebuch zum Vorschein. Es war hübsch eingebunden, abgegriffen und hatte ein altmodisches Schloss. Der Schlüssel war nicht dabei, aber das war wohl kaum ein Hindernis.
»Deine Oma hat als Teenager in dieses Buch geschrieben und dann später wieder, als sie krank wurde, bis sie zu schwach war, um einen Stift in der Hand zu halten«, sagte Opa Lárus.
»Darf ich es haben?« Am liebsten hätte ich ihm das Buch aus der Hand gerissen und das Schloss aufgebrochen.
»Sie hat mir nie gezeigt, was sie geschrieben hat«, entgegnete er.
»Darf ich es haben?«, insistierte ich.
»Haben? Nein, das wandert direkt in den Müll. Das hat sie nur für sich geschrieben.«
Großvater warf das Tagebuch in den Müllsack. Ich nahm mir vor, es bei einer günstigen Gelegenheit wieder herauszufischen, aber dieser Plan wurde vereitelt, denn Großvater sagte: »Ich bringe den Sack gleich zur
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