Todeszeiten (German Edition)
die Eitelkeit ließ ihm keine andere Wahl. Die Handschuhe waren aus schwarzem Leder und hatten ihn zweihundert Dollar gekostet. Er war der Ansicht, dass sie ihren Preis wert waren.
Der Mann vor ihm hatte seine täglichen Rituale. Zu ihnen gehörte ein Spaziergang während der Mittagszeit. Da er ihn in den letzten vier Tagen beobachtet hatte, kannte Becker die Strecke: Der Mann würde in südliche Richtung einen Block weit gehen, nach links abbiegen, zum Park weitermarschieren, die Bäume und Vögel beobachten und anschließend auf demselben Weg in sein Büro zurückkehren. Rituale wie dieses waren hübsch und beruhigend. Und vollkommen idiotisch, wie Becker wusste. Er besaß keine Gewohnheiten dieser Art. Niemand wäre imstande, auf der Grundlage von Erfahrungswerten des vorhergehenden Tages zu sagen, wo er sein würde – zu keiner einzigen Minute seines Tages. Die meisten Leute griffen die Gleichförmigkeit gerne auf; Becker lief vor ihr davon. Er wusste, wie tödlich Gewohnheiten sein konnten, wenn es jemanden gab, der einem einen Schaden zufügen wollte.
Der Mann wurde langsamer. Eine Menschenmenge hatte sich an der Ecke versammelt. Es schien, als würde etwas von Bedeutung gerade die Straße herunterkommen, und die Polizei versuchte aus diesem Grund die Leute zurückhalten. Vielleicht war es eine Parade oder eine offizielle Fahrzeugkolonne, die eine wichtige Person beförderte – wichtig genug, um tatsächlich den Einsatz der Verkehrspolizei und verstopfte Straßenkreuzungen zu rechtfertigen. Wie bei einem Gedränge im Rugby häuften sich an der Ecke die Menschen. Einige setzten sich von dieser Masse ab und reckten die Hälse, um zu erkennen, wer oder was dort kam. Becker hatte diesen Tag ausschließlich aufgrund dieses Ereignisses, das genau in diesem Moment geschah, ausgewählt. Der Mann, den er verfolgte, erreichte die Kreuzung und begann ebenfalls, den Kopf hochzustrecken und auf den Zehenspitzen zu stehen, um über das Gedränge hinweg Ausschau zu halten. Als noch mehr Leute hinzukamen und der Andrang an der Stelle immer größer wurde, ähnelte die Situation einem von Holzblöcken angefüllten Fluss mit einem zu stark belasteten Damm, der kurz vor dem Bersten stand. Die Polizisten schwitzten, verwünschten die neugierigen Menschen und drängten sie bis zu einem gewissen Grad zu einer geordneten Aufstellung.
Becker lächelte über ihre missliche Lage. Er hatte Cops noch nie besonders gemocht. Sein alter Herr war Polizist gewesen – nach einem gescheiterten Versuch, in einer Kleinstadt einen Metzgerladen zu führen. Er zog danach in die Großstadt; Becker war zu jener Zeit noch ein Baby. Als sein Vater begann, die Polizeiuniform zu tragen, fand er Gefallen daran, Becker mit seinem Gummiknüppel zu schlagen, wenn er nach Hause gekommen war und einige Gläser Gin hinuntergekippt hatte. Der Schnaps war so billig und stark, dass man damit Löcher in Metall hätte brennen können. Das und die Zigaretten waren die Hauptlaster seines Vaters gewesen – neben dem Schlagen des eigenen Sohns, während Beckers Stiefmutter mit einem Drink in der Hand zuschaute und Ratschläge gab, wo er als Nächstes hinschlagen sollte. Beckers leibliche Mutter, so hatte man ihm gesagt, war bei der Geburt gestorben. Das war alles, was er wusste und mehr, als er jemals tatsächlich wissen wollte. Er bezweifelte, dass seine leibliche Mutter liebevoller gewesen wäre als seine Stiefmutter.
Als die Polizei ihre Körper und Barrikaden und die Kraft ihrer Lungen einsetzte, um die Menschenmasse auf dem Bordstein zurückzuhalten, drehte sich Becker nach links und bewegte sich weiter in die Menge hinein. Er brauchte zehn Sekunden, um sich vorzuarbeiten, wobei er spitze Ellbogen und entschuldigende Blicke gegenüber den Menschen einsetzte, die er nach hinten drückte. Nun stand er direkt hinter dem Mann. Er schaute auf seine Uhr. Noch eine Minute, und die Limousine und die sie umgebenden Fahrzeuge mit Leibwächtern würden vorbeikommen. Er drängte sich näher heran. Bevor er die Zeitung in seine Manteltasche gleiten ließ, blickte er auf das Datum. 5. Mai 2000. Nächste Woche war sein Geburtstag. Er würde fünfzig Jahre alt werden. Seine Feier würde aus einem einsamen Dinner und keinen Geschenken bestehen. Er scherte sich nicht um Geburtstage.
Becker begann die verbleibenden Sekunden in seinem Kopf zu zählen. Das war eigentlich unnötig, da die kollektive Energie der Menschenmenge sich steigerte, als die Fahrzeugkolonne in Sicht der
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