Töchter des Schweigens
noch einen Moment stehen, den Blick auf die ruhige Wassermasse gerichtet, die am Ufer schaumig wurde und am Horizont mit dem Himmel verschmolz, während sich die Umrisse Tabarcas braun und scharf gegen das Blau abhoben. Seit dreißig Jahren bemühte sie sich, den Anblick des Meeres von den Erinnerungen an den Sommer 1974 zu trennen. Sie war es müde, sich Gefühlen erwehren zu müssen, die sich ihr aufdrängten, ohne dass sie Bilder gehabt hätte, die sie zerpflücken, analysieren und schließlich beherrschen konnte. Das war das Schlimmste von allem: Es gab keine Bilder, denn aller Anstrengung zum Trotz fanden sich in ihrem Gedächtnis nur dunkle, verschwommene Fotogramme von Szenen jener Nacht, die alles verändert hatte. Und das Gefühl, das ihr noch heute die Hände zittern ließ. Dieses Gefühl des Grauens, der Ungewissheit, der Schuld, der brennenden Angst.
Und der Erleichterung. Fast das Schlimmste von allem. Erleichterung.
»Wirst du es mir irgendwann erzählen, Rita?« Ingrid legte ihr die Hand auf die Schulter und suchte ihren Blick mit so liebevollen, mitfühlenden Augen, dass Rita am liebsten aufgeheult und ihre Freundin mit Gewalt abgeschüttelt hätte. Aber sie befreite sich sanft, ging schweigend zum Tresen und fragte von dort aus: »Was willst du trinken?«
Ingrid zuckte mit den Schultern. Es war klar, dass Rita das Thema wechseln wollte, wie immer, und es hätte keinen Sinn gehabt, sie unter Druck zu setzen, also bestellte Ingrid Bier und hörte sich resigniert die Kindheitserinnerungen ihrer Freundin an, die nichts mit dem zu tun hatten, was sie eigentlich wissen wollte.
»Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Mädels verändert haben«, sagte Rita, als sie am Tisch saßen. »Ich meine, sie haben sich natürlich verändert, aber die Konstellationen sind immer noch dieselben. Carmen und Candela sind immer noch wie Hund und Katze, Teresa ist vernünftig hoch drei, Lena ist ein bisschen versponnen wie eh und je, und Ana … nun ja, Ana ist offenbar wirklich anders geworden.«
»Inwiefern?«
»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. In der Schule war Ana ein Wirbelwind. In Bezug auf Jungs vielleicht ein bisschen schüchtern, aber sie war entschlossen, die Welt zu erobern und es weit zu bringen. Sie war die politisch Interessierteste, die, die im Unterricht am meisten über Politik und Religion diskutierte, überzeugte Feministin. Sie wollte immer Jura studieren, weil sie die einzige Chance für eine Veränderung der Welt darin sah, das Gesetz zu kennen und mit legalen Mitteln für das zu kämpfen, was sie für gerecht hielt. Schon witzig, dass die Anwältin in der Gruppe jetzt Candela ist und Ana eine Hebamme. Das passt absolut nicht zu ihr. Es ist, als wäre sie kleiner geworden, statt zu wachsen.«
»Manchmal führen die Umstände zu einer Wende im Leben. Du kannst sie ja bei dem Mädelsessen fragen.«
»Ja, ich würde es tatsächlich gern wissen. Und ich bin auch neugierig auf ihren Mann.«
»Weil der so süß sein soll?« Ingrid grinste maliziös.
Rita grinste zurück.
»Weil, wie du ja weißt, eine meiner Theorien besagt, dass man eine Person erst wirklich kennt, wenn man ihren Partner kennt. Ich bin gespannt zu erfahren, warum sie sich einen Polizisten ausgesucht hat.«
»Polizisten sind auch Menschen.«
Rita lachte. Was auch immer gerade noch in ihr vorgegangen sein mochte, langsam schien sie sich davon zu erholen. Ingrid war an diese Launenhaftigkeit gewöhnt.
»Manche schon, wie in jedem Beruf. Aber dass Ana sich in einen Polizisten verliebt hat, ist schon eigenartig, und wenn er noch so toll aussieht. Sie konnte die Polizei nie leiden. Na ja, weder sie noch sonst jemand, der in Spanien unter Franco aufgewachsen ist.«
»Auch Teresa nicht? Ich habe den Eindruck, sie legt Wert auf Zucht und Ordnung.«
»Teresa am allerwenigsten. Ihr Vater war Guardia Civil, und sie hat ihre Kindheit in der Kaserne verbracht, mit einer schweigsamen und unterwürfigen Mutter und einem Vater, der sie alle wie Rekruten behandelte. Zum Glück entwickelte sie einen starken Charakter, aber sie wurde andauernd bestraft, damit sie ›Disziplin‹ lernt.« Ritas Finger zeichneten imaginäre Gänsefüßchen in die Luft.
»Reden wir von etwas anderem. Da kommen sie.«
Jaime und Teresa schlenderten an den um diese Zeit geschlossenen Fischständen vorüber auf das Lokal zu. Sie gingen lächelnd Hand in Hand wie zwei Teenager. Jaime war groß, schon ziemlich kahl und mit dem typischen Wanst
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