Töchter des Schweigens
Ingrid. Nein, Carmen kommt nicht mit, sie hat zu tun.«
»Hau ab, hau schon ab.« Carmen wedelte mit der Hand in Richtung Tür, als wollte sie sie loswerden. »Ich bleibe noch ein bisschen. Wir sehen uns ja schon bald wieder.«
Rita neigte sich über ihre Freundin, die sitzen geblieben war, gab ihr zwei Küsse, winkte Chema zu und verließ den Cotton Club mit dem Gedanken, dass es in diesem Gespräch, das schon jetzt nur noch Erinnerung war, viele dunkle Punkte gegeben hatte, die sie vielleicht besser klären sollte.
Juni 1974
Die Hitze ist etwas Greifbares, das schwer auf der feuchten Haut lastet, das Haar klebt ihnen am Nacken und sie spüren die schweißgetränkten Kleider, während sie die Examensarbeit unterschreiben und in fieberhafter Eile letzte Fehler korrigieren, ehe Don Luis die Blätter einsammelt, die aus blauem, fast transparentem Papier sind und den Stempel des Gymnasiums tragen, um auszuschließen, dass die Prüflinge schummeln und fertig beantwortete Fragen von zu Hause mitbringen. Jeder weiß, dass das unsinnig ist, dass unmöglich jemand eine vorbereitete Lateinübersetzung mitbringen kann, weil nie vorher bekannt ist, auf welche Textauswahl Don Luis verfallen wird, aber die Vorschriften sind nun mal die Vorschriften, und es handelt sich um das Abschlussexamen für die Hochschulreife.
Marga und Tere geben fast gleichzeitig ab und gehen mit einem mitleidigen Blick auf ihre Freundinnen, die weiter über den Bögen brüten, hinaus auf den Flur, bemüht, leise zu sein und schnellstens den Schulhof zu erreichen, um vor Erleichterung Luftsprünge zu machen und in Jubelgeschrei auszubrechen. Das ist ihre letzte Prüfung im Gymnasium gewesen. Ab sofort werden alle künftigen Prüfungen in Valencia stattfinden, an der Universität.
Draußen angekommen, stößt Marga, statt zu hüpfen und zu kreischen, jedoch nur einen tiefen Seufzer aus, zieht ein Päckchen filterlose Bisontes heraus, bietet ihrer Freundin eine an und gibt ihr Feuer. Der Rauch kribbelt in ihren Lungen, und sie lächeln, erschöpft, aber glücklich.
»Wie ist es bei dir gelaufen?«, fragt Marga.
»Gut. Glaube ich. Ich verabscheue Sallust, aber ich habe zwei Wochen lang Angst gehabt, er könnte uns eins der Epigramme von Martial vorsetzen, die wir nicht durchgenommen haben. Ich glaube nicht, dass es eine Eins wird, aber auch eine Zwei würde fürs Stipendium dicke reichen. Und bei dir?«
Beide wissen, dass Tere dieses Stipendium unbedingt braucht, da es für sie den einzigen Weg in die ersehnte Zukunft darstellt, denn ihre Eltern können für ein studierendes Kind nicht aufkommen und für eine studierende Tochter schon gar nicht.
»Auch eine Zwei, nehme ich an, falls ich nicht zu viele Flüchtigkeitsfehler gemacht habe. Entscheidend ist, dass wir es hinter uns haben. Morgen gehen wir alle zusammen ins Schwimmbad, und dann denken wir nur noch an Mallorca!«
Tere schüttelt den Kopf.
»Nein, Marga, morgen kann ich nicht.«
»Hast du schon wieder Hausarrest?«
Tere verzieht den Mund zu einem Lächeln, das in einem älteren Gesicht bitter gewirkt hätte, in ihrem aber nur ein wenig schief sitzt, ein wenig deplatziert. Einen Moment lang ist sie versucht, Marga die Wahrheit zu sagen, ihr zu erzählen, was wirklich mit ihr los ist, entscheidet sich aber dann doch zu schweigen. Alle kommen mit ihren Problemen zu Marga, die allmählich zum seelischen Mülleimer der Clique wird. Vielleicht würde sie mit ihr sprechen, wenn sie etwas für sie tun könnte, aber niemand kann ihr helfen, und darum antwortet sie ihr mit einem Teil der Wahrheit.
»Nein, diesmal nicht. Ich muss meiner Mutter zu Hause helfen. Du weißt doch, dass mein Vater es nicht ausstehen kann, wenn jemand nichts zu tun hat, und da ich ja jetzt mit der Prüfung fertig bin …«
Marga legt ihr den Arm um die Schultern.
»Soll ich mal mit deinen Eltern reden?«
»Nein, schon gut. Lassen wir uns bloß nicht die Mallorca-Reise vermasseln.«
Schweigend schlendern sie auf die Kantine zu und halten sich im Schatten, während sie warten, dass auch die anderen fertig werden und herauskommen, um mit ihnen die Lateinarbeit zu besprechen, gemeinsam über das haarsträubende Zeug zu lachen, das Carmen geschrieben hat, und über die Risiken, unter denen Ana ihr geholfen hat, dennoch zu bestehen.
»Mir hängt das alles zum Hals raus! Ich will endlich hier weg, Marga, das alles hinter mir lassen, mein eigenes Leben leben, mein eigenes Geld verdienen und machen, was ich will!
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