Toedliches Fieber
die Frage nach.
»Na ja, es wirkt wie eine Provokation, eine nackte Frau zwischen zwei vollständig bekleidete Männer zu malen, aber Manet hat sich von einem Bild von Tizian dazu inspirieren lassen, nicht wahr? Könnte das Gemälde nicht einfach eine Hommage an den alten Meister sein? Möglicherweise war ihm nicht klar, dass er ein ländliches Idyll in eine äußerst kontroverse Vorstellung verwandelte, indem er Schäferkleidung durch die Pariser Mode des 19. Jahrhunderts ersetzte?«
»Also wirklich, Eva«, warf Omar ein. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass der geistige Vater des Impressionismus diese Bilder nur gemalt hat, weil er es nicht besser wusste?«
»Durchaus interessante Fragen, Eva und Omar. Die Stundeist zu Ende, aber ich möchte, dass Sie das Thema in einem Aufsatz mit dem Titel ›Der Vorläufer – Visionär oder zufälliger Erneuerer?‹ vertiefen.«
Omar drückte mir freundschaftlich die Schulter, als wir aus dem Klassenraum gingen. Ruby wartete schon auf uns.
»Hey, Rubes«, begrüßte ich sie grinsend und hakte mich bei ihr unter. Omar nahm ihren anderen Arm und so gingen wir gemeinsam zum Speisesaal. Ruby und Omar waren ein Paar, mit dem man gut zusammen sein konnte. Sie passten zueinander, hatten viel zu lachen und fanden es anscheinend voll in Ordnung, wenn sich noch jemand anschloss.
Wir stellten uns in die Schlange an der Essensausgabe.
»Und wie war Deutsch, Ruby?«, fragte ich.
»Oh … ich muss heute Abend noch ganz viel Goethe übersetzen. Wahrscheinlich muss ich die ganze Nacht durchmachen.«
»Hast du mal mit Crisp über einen Kurswechsel geredet?«, fragte Omar.
»Komm zu Kunstgeschichte – das ist echt cool!«, schwärmte ich.
»Wie kannst du so was sagen, Eva? Hast du schon vergessen, was für einen Aufsatz wir heute schreiben sollen?«, empörte sich Omar.
Ich sah ihn an. Eigentlich hatte ich gedacht, er wäre genauso scharf auf Kunstgeschichte wie ich, und ehrlich gesagt hatte ich mich schon darauf gefreut, diesen Aufsatz zu schreiben.
»Äh, stimmt, auch wieder wahr«, murmelte ich und biss mir auf die Lippe. Beinahe wäre ich unachtsam geworden. Ich war viel zu entspannt hier an der St. Magdalene’s.
Später an diesem Abend saß ich am Schreibtisch und wollte gerade für meinen Chemieaufsatz über das Ozonloch etwas über Brom- und Chlorverbindungen recherchieren, als Ruby in mein Zimmer platzte.
»Eva, du bist ja noch gar nicht fertig.«
Ich drehte mich verwirrt zu ihr um. »Was, wozu?«
»Für den Stand-up-Gig! Mann! In einer Viertelstunde geht es los!«
»Aber … ich dachte, du übersetzt die ganze Nacht Goethe?«
»Das meinst du nicht ernst, oder? Das ist einmalig, was gleich geboten wird. Goethe kann warten! Ich schreibe morgen bei Mia ab.«
Sie hob meine Turnschuhe auf und warf sie mir zu. »Beeil dich … Ich möchte den Anfang auf keinen Fall verpassen.«
Gehorsam zog ich die Schuhe an und lief hinter ihr her über den Innenhof.
Im Gemeinschaftsraum war es proppenvoll, aber Omar hatte uns ganz vorne zwei Plätze reserviert.
»Bist du nervös?«, fragte ich ihn.
»Ich doch nicht.« Er grinste.
»Und ob!« Ruby lachte.
Um Viertel nach neun wurde das Publikum vor lauter Erwartung leiser und alle blickten zur Bühne. Einige Schüler schlurften hinauf, drängten sich zusammen und warfen uns verstohlene, peinlich berührte Blicke zu.
»Was hat das zu bedeuten, Omar?«, flüsterte ich.
Er zuckte die Achseln.
»Um wie viel Uhr bist du dran?«, fragte Ruby leise.
Wieder zuckte er die Achseln.
»Wer hat sich das denn eigentlich ausgedacht?«, fragte ich und dachte sehnsüchtig an meinen Schreibtisch und das Ozonloch.
»Keine Ahnung! Ich habe mich nur in der Liste eingetragen!«
Wir saßen da und warteten ab.
Glücklicherweise passierte endlich doch etwas. Ein großes Mädchen mit Punkfrisur und mehreren Piercings schlenderte zur Bühne.
»Astrid! Astrid! Astrid!«, wurde sie vom Publikum angefeuert.
Sie blickte in die Menge und zog die Stirn kraus. Dann näherte sie sich der Versammlung auf der Bühne.
»Okay, Leute – geht hier mal was?«
Sie schüttelten alle den Kopf.
»Na gut, wer hat die Verantwortung?«
Sie sahen einander an und zuckten ratlos die Achseln.
Astrid verdrehte die Augen, ging in die hinterste Ecke der Bühne und holte ein Mikrofon mit Ständer, das sie in einen Verstärker stöpselte. Das Ganze hievte sie nach vorne an die Bühne.
»Hat einer ein Stück Papier?«, brüllte sie in die Menge.
Ein zerknitterter
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