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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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würde sie verstehen oder fühlen oder reden oder träumen, nie wieder. Das war das Grauenvolle daran, Anne-Marie zu verlieren: Sie hatte sich selbst verloren. Sie hatte das Leben mit all seinen wundersamen, unvorhersehbaren Möglichkeiten verloren. Wir anderen würden weiterleben, aber sie nicht. Für sie war alles vorüber. Selbst wenn ich glaubte, die Seele eines Menschen ginge nach dem Tod über in eine andere Dimension – und woher sollte ich das wissen oder leugnen? –, ihr Platz im Leben, die Welt, wie sie diese wahrgenommen, geschmeckt, gekannt hatte, war ausgelöscht. Licht aus, Schluss, vorbei.
    So schrecklich es auch war, sie zu verlieren – noch schlimmer war für mich die Vorstellung, dass Anne-Marie gewusst hatte, dass es so kommen würde. Ich hatte versagt, ich hatte Anne-Marie nicht vor dem Wissen bewahren können, dass ihr der Tod bevorstand. Alle meine Bücher und Witze und verrückten Klamotten hatten sie vor diesem Wissen nicht schützen können. Sie war viel zu klug, um nicht zu begreifen, was die Arztvisiten und Untersuchungsergebnisse und ihr inneres Empfinden bedeuteten.
    Schon als Kind hatte Anne-Marie die Intelligenz und Intuition besessen, um Lügen und Blödsinn zu durchschauen. Nach zwei Wochen trat sie bei den Pfadfindern wieder aus, weil die Gruppenleiterinnen ihr nicht den Sinn des Ganzen erklären konnten. Anne-Marie sah nicht ein, wozu man aus Plastikschnüren Schlüsselbänder drehen sollte, und wenn die Gruppenleiterinnen ihr nicht den Sinn und Zweck vierfädig geknüpfter Schlüsselanhänger erklären konnten, machte sie da nicht mit. Als Erwachsene nahm sie allgemein gültige Ansichten über die Architektur der Renaissance auseinander und entwickelte eine völlig neue Art, den Einfluss der Gesellschaft auf den Kirchenbau im 15. und 16. Jahrhundert zu betrachten. Sie wusste lange vor mir, dass Jack der richtige Mann für mich war, und sie wusste, dass meine Kinder schön sein würden, noch bevor sie auf die Welt kamen. Sie besaß die äußerst seltene Gabe, alle Seiten eines Problems oder eines Vorhabens klar und vorurteilslos zu betrachten. Als die Ärzte den Verlauf von Gallengangkrebs in medizinischem Fachvokabular und mit beruhigender Stimme mit ihr besprachen, begriff sie, lange vor uns anderen, dass die ganze Behandlung nur schmerzlindernd war. Sie spürte, wie das Krebsgeschwür in ihrem Innern wuchs und allmählich das Leben in ihr erstickte. Der Tod war auf dem Weg.
    In den drei Monaten ihrer Krankheit erlebte ich nur ein einziges Mal, dass meine Schwester zusammenbrach. An einem Samstag im März besuchte ich sie zu Hause, während Jack mit den Jungen ins Museum of Natural History ging. Wir saßen in ihrem mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmer auf dem Sofa. Ich weiß noch, wie sie mich ganz plötzlich zu sich heranzog, mich umarmte und festhielt, so dass mein Gesicht in ihren Haaren und ihrem dicken grauen Wollpulli vergraben war und ihr Gesicht in meinen Haaren. Sie wollte mir nah sein, aber sie konnte mir nicht in die Augen sehen, als sie mir sagte, was sie wusste.
    »Es ist so ungerecht.«
    Ganz allmählich drangen die Worte zu mir durch. Es war ungerecht, dass sie sterben musste. Sie sagte es nur das eine Mal. Ich verstand. Ich drückte sie an mich, und es gab nichts, was ich dazu sagen konnte, außer immer wieder, dass ich sie lieb hatte. Jetzt habe ich diesen grauen Wollpulli und trage ihn im Winter. Ich weiß, wie ungerecht das Leben ist. Wir alle wissen das, aber Anne-Marie wusste es nicht nur, sie erfuhr es am eigenen Leib. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich ihr dieses Wissen nicht abnehmen konnte.
    In dem Roman Der Meister von Petersburg stellt sich J. M. Coetzee vor, dass Dostojewski genau den gleichen unerträglichen Gedanken hatte. Dostojewskis Sohn ist bei einem Sturz ums Leben gekommen. Sein Tod macht Dostojewski traurig, doch was ihn noch stärker verfolgt, ist der Gedanke, dass sein Sohn den Tod hatte kommen sehen und er, der Vater, nichts tun konnte, um ihn vor diesem Wissen zu bewahren: »Was er nicht ertragen kann, ist die Vorstellung, dass Pawel im letzten Sekundenbruchteil seines Sturzes gewusst haben muss, dass ihn nichts mehr retten konnte, dass er im Grunde schon tot war. Gerade aus dem Wissen heraus, dass er tot ist, will er seinen Sohn beschützen. Solange ich lebe, denkt er, möchte ich der Wissende sein. Welche Willensanstrengung es auch immer erfordern mag, das denkende Lebewesen, das durch die Luft stürzt, möchte

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